Seehamer Tagebuch
meine Familie: »Keine Ahnung mehr!« Ganz zu schweigen von den Leiden, die ich nachts ausstehe, wenn ich uralt verjährte Kräche mit längst verblichenen möblierten Wirtinnen wieder aufwärme und mir — erst jetzt — einfällt, was ich damals hätte sagen sollen, aber nicht gesagt habe. Ich wollte, ich wäre wie Großtante Anna. Sie konnte sich keine Daten einprägen, eine Liste der Familiengeburtstage hatte sie an einem stillen Ort an die Tür geheftet, um keinen zu übersehen, aber wenn man sie fragte, wieso sie denn zu Meiers so hilfsbereit sein könne, die hätten ihr doch so gräßliche Scherereien gemacht, dann erwiderte sie: »Scherereien? Tatsächlich? Nein, daran erinnere ich mich nicht, so was kann ich mir nicht merken.« Ein gutes Vergeßnis, das wünsche ich mir.
5. März
In den Gemeinderatssitzungen Seehams beginnt man sich ernste Gedanken darüber zu machen, wie man noch mehr Fremde in den im Sommer ohnehin überfließenden Ort locken könnte. Man denkt sich dazu Attraktionen aus. Auch über die künstlerische Gestaltung eines Ortswappens wird diskutiert.
Das Hochwasser hat inzwischen dafür gesorgt, daß zu den etwa zwei Tonnen vorjährigem Abfall am Ufer noch einige weitere Doppelzentner angeschwemmt worden sind. Man kann dort kaum noch gehen, geschweige denn niedersitzen. Auch fehlen noch immer gewisse Örtlichkeiten...
Und da zerbricht man sich den Kopf über ein Ortswappen?
6. März
Die großen Muscheln, die Korkrinde, die Andenken an das Mittelmeer liegen völlig tot und leblos im Bücherregal und vermögen nicht, Duft und Farbe des Südens auch nur annähernd zurückzurufen. — Gewisse impressionistische Musikstücke, in denen Flöte (die Syrinx des Pan) und Harfe (die Leier Apolls) vorkommen, können es jedoch so stark, daß man den wilden Thymian im ganzen Wohnzimmer riecht.
8. März
Morgens lese ich in der Zeitung die Klage des berühmten Pädagogen über den Verfall des Erbarmens. Keine zwei Stunden später stoßen wir an einer Straßenkreuzung auf den Menschenauflauf um zwei verbeulte Wagen. Die Sirene heult, Blutendes wird mit einer Wolldecke verhüllt und abtransportiert. Ein Zwölfjähriger sieht seinen Kameraden im Schlenderschritt über die Felder herbeikommen. »Ja schick di halt«, schreit er eifrig, »grad ham se’s furt.« Mit häßlicher Präzision fällt die Klappe in meiner Gedächtnisregistratur. Was war es, das der Halbwüchsige unserem Jungen zurief, als man damals den Ertrunkenen aus dem See gezogen hatte? »Wo bist nacha du g’wen?« Sensationen, so meinen diese jungen Dackel, müssen ausgekostet werden. Haben sie wirklich ein so verhärtetes Gemüt? Haben sie nicht nur ein noch zu stumpfes Vorstellungsvermögen? Verfällt das Erbarmen überall?
Ich kann die junge Pflegerin nicht vergessen, die vorigen Sommer in der Bahnhofs-Durchgangsstation das mongoloide Schwachsinnige betreute. Sie nahm sich die Zeit und die Mühe, aus ein paar Blumen ein Kränzchen zu binden und es dem Kind mit zärtlichen Worten aufzusetzen. Eine Geste erbarmungsvoller Zuwendung, die das fürchterliche, glotzende Froschgesicht aus einem Schrecknis in etwas Kostbares zurückverwandelte — in ein Menschenkind. Sie hat ein Fenster aufgestoßen, wo ich eine Wand glaubte. Wenn ich meine, es gäbe kein Erbarmen mehr, dann fällt sie mir ein. »Von einem einzigen Korn«, läßt der Dichter Yeats seinen Engel sagen, »kann die Ernte sich wieder häufen auf dem goldenen Boden der Tenne.«
12. März
Heute kam ein Brief: »Ehe die schöne Jahreszeit einsetzt und Ihr wieder so viel Besuch habt, wollen wir schnell noch einmal bei Euch hereinschauen. Wir schätzen, es wird so zwischen Montag und Mittwoch werden. Vielleicht rufen wir auch noch an.«
Ach, wie war es damals, als das Telefon gelegt wurde? »Paß mal auf, wieviel leichter jetzt alles wird, wenn die Gäste sich vorher ansagen«, hatte Michael, der Fürsorgliche, gesagt, »nicht mehr diese quälende Ungewißheit, ob du mittags mehr kochen oder schon um halb drei Uhr den Kuchen fertig haben mußt.«
Die Gäste jedoch sind fast alle motorisiert, sie rollen die Autobahn so schnell entlang, daß sie nirgends mehr anhalten und telefonieren können und stürzen, wie früher auch, mit freudigen Schreien in den Garten, wenn Michael und ich gerade die Jauchegrube ausschöpfen oder drei Ster Torf stapeln, weil ein Gewitter über dem See steht.
Noch schlimmer ist es, wenn im Laufe
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