Seehamer Tagebuch
was man gern längere Zeit hindurch empfindet.
17. Januar
Wie still es heute wieder im Wald war. Erst wenn man nach dem Stehenbleiben den eigenen Atem und Herzschlag nicht mehr hörte, zerteilte sich die Stille in kleine, bewegte Muster, wie die Dunkelheit vor den Augen, wenn man die Finger gegen die geschlossenen Lider drückt: tropfende, eintönige Vogellaute, das Rieseln von Schnee oder Nadeln, das Knarren eines Stammes in unmerklichem Lufthauch.
Manchmal möchte man lieben Freunden statt jedes anderen Gedenkens eine Blechbüchse voller Stille zuschicken, in ihre hellhörigen Neubauten, in ihre von Verkehrsgebrüll überschwemmten Büros. Nicht alle können damit umgehen. Wie viele sind schon, pausenlos redend und berichtend, ihr Inneres umstülpend, neben mir durch diesen Wald gegangen und haben nach einer Stunde geäußert: »Köstlich, die Ruhe hier.« Sie kennen die große regenerierende Kraft der Stille nur noch vom Hörensagen, sie sehnen sich danach, aber nur theoretisch. Empfinden sie sie insgeheim vielleicht gar nicht als »Paradiesruhe«, sondern als »Grabesstille«?
20. Januar
Überall liest man Kommentare über die zu Ende gegangene Fernseh-Kriminalserie. Sie scheint gewaltig ins Familienleben eingegriffen zu haben. Eine Bekannte von mir, die am Tag der letzten Folge einen Sohn bekam, fragte den in die Klinik geeilten Vater innerhalb der ersten fünf Minuten, wer denn nun der Mörder sei. Sie war ein bißchen enttäuscht, bei seiner Entlarvung nicht dabeigewesen zu sein. Ich war dabei. (Ein feuchtes Küchentuch in der Hand, die Schürze um. »Komm doch mal eben, es scheint doch der Gutsbesitzer gewesen zu sein.«) Mir wurde jedoch nicht klar, warum der Mörder eigentlich angefangen hatte zu morden, seinerzeit. Es leuchtete mir psychologisch nicht ein. Seltsam, daß etwas so spannend sein kann, daß Qualität dabei keine Rolle mehr spielt. Ich glaube übrigens nicht, daß es ein Zeichen für die Sensationsgier unserer Zeit ist, dies Vergnügen am Scharfaufpassen und Herauskriegen. Als Mama noch einen langen Zopf trug und mit ihren Eltern 1890 nach Meran reiste, schrieb sie (fein auf, dick ab) in ihr Wachstuchheftchen: »Amüsierten uns abends im Hotel köstlich mit dem Raten von Charaden in mehreren Folgen.«
26. Januar
So viele schreckliche Brandunglücke es auch in letzter Zeit gegeben hat, ich kann noch immer nicht die Bilder vom Zirkusbrand in Mittelamerika loswerden, die tückisch in einer Zeitschrift gelauert hatten, um mir beim Friseur ins Gesicht zu springen. Ich glaube, es waren über zweihundert Tote, meist Kinder, denen man mit der Vorstellung eine Weihnachtsfreude hatte machen wollen.
(Warum einen nur manche Menschen um die Phantasie beneiden, die erbarmungslose, automatisch einsetzende, unbeherrschte Phantasie, die mich im überfüllten Leichenschauhaus der fremden Stadt Verkohltes identifizieren läßt?)
Ein Betrunkener soll das Ganze verschuldet haben. Er drohte, den Zirkus anzuzünden, wenn er keine Eintrittskarte mehr bekäme, und man fand später die Stangen des Zirkuszeltes angesägt. Was würden die Mütter tun, wenn dieser Mann ihnen in die Hände fiele. Was würde ich tun?
Da ist es, das Unheimliche, das mich die Bilder nicht vergessen läßt: Ich bezweifle, daß mir meine Zivilisationspolitur, meine in Jahrzehnten erworbene leidliche Besonnenheit, mein humanistisches Ideal, in diesem Fall nützen würden. Schon bei dem Gedanken an diesen Mann sträuben sich mir die Nackenhaare wie einem Hund; der kalte Schauder des Jähzorns, den ich aus meiner Kindheit kenne, das seltsame Erblinden für Zusammenhänge, Größenordnungen und Vernunft, ich spüre sie wieder. — Und da habe ich geglaubt, es sei kindereinfach, anstatt mitzuhassen, stets mitzulieben.
29. Januar
Heute stand ich am Ufer, die Berge hatten das Blau behauchter Pflaumen. Die Schwäne waren wieder da, auch der große Patriarch, der immer aus dem Wasser steigt und mich tadelnd in die Mantelknöpfe beißt, wenn ich nicht genügend Brot mitgebracht habe. In der Ferne rauschte ein Zug, der gleiche, den ich mir als Sechzehnjährige so gern als D-Zug Wien-Paris vorgestellt und dem ich all meine Lebensgier und mein Fernweh mitgegeben habe. Seit wann weiß ich, daß keine Stadt so schön sein kann, wie sie in meiner Vorstellung und Erinnerung lebt? Sind es erst Jahre oder schon Jahrzehnte? (Hinten im Adreßbuch, zwischen Telefonnummern, Geburtstagen und
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