Seehamer Tagebuch
Ebner-Eschenbach sagt: »Manche Leute meinen, sie hätten ein gutes Herz, und haben nur schlechte Nerven.« Ich habe diesen Satz (wenn auch ungern) auf mich bezogen, die ich wegen eines bei mir anklopfenden Bettlers tränenüberströmt Kleider- und Speiseschrank plündere und in fremden Städten zerlumpte Kinder zu Schokolade und Kuchen einlade. Muß ich mich schämen, weil erst das Bild, das auf meine Netzhaut auftrifft, spontanes Handeln auslöst? Vielleicht nur, weil ich dadurch meinem Mit-Leiden ein Ende mache?
Neulich hat eine gescheite Frau mir erklärt, daß es nicht auf den Impuls, sondern auf die gute Tat ankäme. Darf ich ihr glauben?
20. Februar
Auf schneeglatten, regennassen, vereisten Straßen sollten nur gute Autofahrer sich bewegen. So heißt es. Von den Beifahrern wird nicht gesprochen. Wie steht es mit denen, die alle Widerstände pfeilschnell auf sich zurasen sehen und deren Vorstellungskraft ungebärdig alle üblen Möglichkeiten abspult, vom krachenden Aufprall bis zur Testamentseröffnung? »Lies doch etwas«, schlägt Michael vor (der so konzentriert fährt, als erwarte er jede Minute ein Rudel Rehe oder ballspielende Kinder in der Fahrbahn), »das wird dich ablenken.« — Die Autobahn ist lang. Meine Bildungslücken schließen sich. Doch ich bin nicht immer in der gleichen Nervenverfassung. Es gibt Tage, an denen ich meine, das einzige Buch, das sich bei solcher Fahrt als Lektüre eigne, sei das Gesangbuch.
21. Februar
Bei schlechtem Wetter ergeben sich in der Stadt oft überraschende menschliche Kontakte, wo man sonst mit starren Gesichtern aneinander vorübergeht, ein Fremder unter Fremden. Rutscht man jedoch leicht aus und spritzt einem der Matsch bis in die Kniekehlen, so lächelt man einander zu. »Ja pfüat di Gott!« sagte ein Mann, als wir gemeinsam von einem Vorüberfahrenden eine erfrischende Dusche entgegennehmen mußten. Er meinte es keineswegs als Abschiedsgruß, sondern als Einleitung zu einem Gespräch. Und auch die ungeheuer reservierte Dame im kostbaren Pelz wurde, als zwei Meter neben uns eine Dachlawine herunterpolterte, beinahe zutraulich, weil es noch einmal gutgegangen war.
25. Februar
Um Himmels willen, keine Gespräche über Dienstboten, hieß es früher. Heute ist es eines der amüsantesten Themen.
»Ja, meine Putzfrau kommt noch. Geld hat sie genug, aber sie liebt uns.«
»Die meine kommt nur, weil ich sie süchtig gemacht habe. Sie kriegt bei mir einen ganz bestimmten Rotwein, der ihr schmeckt.«
»Solange unsere Putzfrau meine Sammlung leicht anstößiger Schriften nicht durchgelesen hat, besteht Hoffnung, daß sie wiederkommt.«
Gestern finde ich eine Freundin, die das Pech hat, einem Villenhaushalt vorzustehen, zwischen krähenden und sabbernden (sehr süßen) Babys auf dem Teppich. »Ach, das da ist von der Büglerin, das gehört der Köchin, und das dort hat die Putzfrau mitgebracht. Ich müßte jetzt eigentlich dringend weg — aber wer hütet dann die Kinder?«
Wir hier auf dem Dorf fangen auch an, uns Gedanken zu machen, womit wir die Putzfrau an uns ketten. Der Sog nahe liegender Skihotels ist ungeheuer.
28. Februar
Nicht nur stieß Michael schon vor dem Frühstück mit einem Fensterflügel sein Kaffeekännchen vom Tisch, und die Brühe ergoß sich auf den grauen Velours, nicht nur tat mir der linke obere Backenzahn unvermutet wieder weh, so daß ich auf heiß und süß hinter den Ohren schwitzte, nicht nur hörte ich, daß Dicki bei einer militärischen Nachtübung mit der Hand in einen Stacheldraht geraten war und mit eiternder, verbundener Vorderpfote »innendienstkrank« ist (ein Fachausdruck, der besagt, daß ich ihn diesmal wieder nicht sehen werde), nein, die Steuer wählte diesen Tag, um eine gewaltige Nachzahlung für irgendeine graue Vorzeit zu fordern. Außerdem fehlte es nicht an den gewissen kleinlichen Tratzereien, die ebensowenig Schicksalsschläge sind und dennoch eine stille Wut erzeugen: Man kann das mir geschenkte Kleid, dessen Farbe mir so gut steht, nicht ändern, weil kein Stoff mehr da ist. Die Ölwagenleute stellten mit dem kalten Blick der Experten fest, daß unser Ölverbrauch doch wesentlich höher liegt, als ich gehofft hatte. Bei den Sesseln im Wohnzimmer, die doch gewiß nicht billig waren, bricht schon jetzt das Geflecht der Rückenlehnen. Ich brauche gar nicht erst aus dem Fenster zu schauen, ob der Maulwurf den mühsam angesäten Rasen zerstört
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