Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
Vom Netzwerk:
Tabak. Ich hielt es für einen infamen Mordversuch, einem Magenkranken so etwas zu geben, aber meine Männer waren darin anderer Meinung, und unser Gast zog jedesmal schon vor der Begrüßung schmunzelnd seine Pfeife aus der Tasche. Eines Tages erschien er in neuem Anzug, und in seinem Schlips stak eine hufeisenförmige Krawattennadel. Er wollte, sagte er, sich noch einmal für alles bedanken. Es ginge ihm jetzt besser, er hätte etwas ausbezahlt bekommen und zöge jetzt in ein warmes Zimmer ganz für sich allein. Es war zum Jauchzen. Als er den Hut schwenkte und Adieu sagte, stand ich nachher noch lange am Fenster und sah ihm nach, wie er, mit dem Stock tastend, auf dem Feldweg dahinrutschte. Die Möglichkeit, daß es Sanct Expeditus, unser Schutzpatron, in eigener Person gewesen war, der sich einmal inkognito bei uns hatte umschauen wollen, war nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Er ist nie wieder erschienen. Doch wenn es sich um einen ganz normalen armen alten Mann gehandelt haben sollte, so hatte er seine Funktion: In Frankreich bringen Bucklige und Blinde Glück. Vielleicht in Bayern auch? Da das Leben eines freien Schriftstellers aus glücklichen Zufällen besteht, können gar nicht genug Bucklige und Blinde kommen. Wir brauchen sie dringend.
    Nicht so dringend brauchen wir jene Gäste, die glauben, dem guten Michael ein wenig auf die Sprünge helfen zu müssen. Sie sitzen kaum, da beginnen sie mit dem Satz: »Wissen Sie, ich habe da einen fabelhaften Stoff, der wäre etwas für Sie. Also ich gehe da neulich — es war am Dienstag, nein, es war ein Mittwoch — oder doch Dienstag, ich weiß nicht mehr, ist ja auch egal...«
    Wenn wir alles angehört haben und Michael die Augenbrauen höflich bewegt hat, um ein Lächeln anzudeuten, gehen die Gäste dazu über, ihn mit schamlosem Lob zu überschütten (ohne je ein Opus von ihm gelesen zu haben). Eine einzige richtig zitierte Stelle, eine einzige Szene, die ihnen wirklich gefallen hat, freuen den Autor mehr. Aber sie glauben ja immer, sie müßten eine literarhistorische Wertung von sich geben, in der das Wort »Stilelemente« vorkommt. Dann blicken sie sich rasch und verstohlen auf und unter dem Schreibtisch um, als vermuteten sie, er habe seine Muse im Papierkorb versteckt. Später folgen sie mir trotz meines sanften Protestes in die Küche und drücken mir beim Abspülen den Ellenbogen mit den Worten: »Wie herrlich muß es für Sie sein, Ihren Gatten bei seiner schöpferischen Tätigkeit zu helfen!« Ich kann sie nicht einmal bitten, mir das Abtrocknen abzunehmen, denn zufällig sind gerade alle anständigen Handtücher in der Wäsche, und an der Tür hängen nur höchst provisorisch gesäumte Bettuchstücke, weil mir seit vierzehn Tagen »die schöpferische Tätigkeit meines Gatten« über den Kopf gewachsen ist.
    Schon im zarten Alter mußte Dicki uns einen Teil der gastgeberischen Pflichten abnehmen, was ich nicht nur für bequem, sondern auch für erzieherisch hielt. (Er ging mit dem Ausruf: »O Gott, schon wieder eine Dame!« an seine Pflicht, was Papa königlich amüsierte, der bekannte, daß ähnliche Gefühle ihn nun rasche Zuflucht in seinem Atelier suchen ließen.) Dicki begleitete Besucher artig an den See, erklärte ihnen, wie die einzelnen Berge hießen, und wußte anzugeben, wieviel Leute heuer im Eis eingebrochen, beziehungsweise mit dem Segelboot umgekippt und ertrunken waren (auch er hatte schon gemerkt, wie viele Städter erst nach solchen Daten den See ernst nahmen), und verschaffte seiner Mutter so die Möglichkeit, inzwischen daheim ein wenig Kulisse zu schieben, ehe er an seine Hausaufgaben zurückkehrte. (Zeichnung einer Karte über rechtsrheinische Schweinemast oder dergleichen.)
    Phantastische Nachtbesucher, wie sie zur Zeit des amerikanischen Einmarsches vorkamen, sind selten geworden. Kuriosa aller Art kommen jedoch unserer einsamen Lage wegen noch immer vor. Wir sind ganz einfach das erste Haus nach einer langen leeren Strecke. So kommt denn ein Mann, der um etwas Brot für eine lahme Ente bittet, zuerst zu uns. Unser Telefon ist das nächstgelegene, wenn an heißen Tagen das heranströmende Volk des Nachbarn ganzes Vorratslager an Limonade ausgetrunken hat und das Auto kommen muß, um es wieder aufzufüllen. Und für ein weinendes Mädchen, das patschnaß und ohne Schuhe früh um sieben bei uns erscheint (der Bock stößt sie so, daß man nicht klären kann, ob sie hat ins Wasser gehen wollen oder nur sechs Kilometer durch den

Weitere Kostenlose Bücher