Seeherzen (German Edition)
Beutel fallen. «Vielleicht kommen sie ja zu uns runter, und dann können wir alle zusammen gehen.»
Kaum hatte ich ausgesprochen, war Grinny auch schon den Strand hinaufgeschossen, um die anderen zu holen. Er musste noch größere Angst gehabt haben, als ich geahnt hatte.
Ich konzentrierte mich darauf, einige der noch treibenden Herzen zu fangen, ohne mir dabei die Hosenbeine nass zu machen. Manche Leute aßen die besten Herzen roh, besonders unsere Mums; sie tranken die Flüssigkeit daraus, und wenn mehrere Mums zusammen waren, riefen sie sich verzückt zu, wie köstlich es ihnen schmeckte
.
Wenn sie allein waren, saßen sie schweigend da und starrten entrückt vor sich hin. Und wenn Dads anwesend waren, sagten sie zueinander: «Ich kann diese Begeisterung dafür überhaupt nicht verstehen», schnalzten verächtlich mit der Zunge und warfen das Herz zu den anderen in den Kochtopf. Wenn man das Herz im Ganzen kocht, verfestigt sich die Flüssigkeit im Innern zu einem orangefarbenen Brei. Mit diesem Brei waren wir alle von klein auf gefüttert worden, löffelweise hatte man uns davon in den Mund geschoben, und manche Jungs aßen ihn immer noch gern. Ich selbst mochte ihn auch, aber nur wenn ich krank war. Es war immerhin Babybrei, und ein Junge braucht nun mal vor allem Brot und Fleisch.
Jedenfalls kamen die Seetang-Sammler jetzt zu uns herunter, und gemeinsam bildeten wir eine große Truppe. Harper sammelte ein feuchtes Herz auf, wog es in den Händen und drehte es um, dann kippte er seinen Beutel mit den trockenen Herzen aus und fing noch einmal von vorn an. Kit Cawdron sah ihm von Zweifeln geplagt zu.
«Warum nimmst du nicht auch ein paar von denen hier, Kit», schlug ich vor, «statt diese Zahnbrecher? Dann wird deine Mum bestimmt stolz auf dich sein.»
Kit starrte auf ein glänzendes Herz zu seinen Füßen, dann erwachte er aus seiner Starre und öffnete den Beutel. Was für einen Mist er da eingepackt hatte! Wie vertrocknete Stoffbälle hüpften seine Herzen am Ufer entlang.
Sein Bruder Oswald sprang in den Meerwassersaum rein und wieder raus, ohne darauf zu achten, was Kit tat. Ich hob ein paar vernünftige, wenn auch nicht allzu große Herzen in die Höhe. «Siehst du, dass die Schale noch zu ist? Und die Seegrasfasern sind noch ganz feucht, stimmt’s? Darauf musst du achten, wenn du deiner Mum eine Freude machen willst.»
«Mögen Mums lieber kleine oder große?», fragte Kit, während er ein Seeherz in die Hand nahm.
«Kommt drauf an. Will deine Mum lieber kleine, die schnell gar werden, oder richtig dicke, saftige? Meine Mum mag beides, deshalb bring ich ihr immer verschiedene zur Auswahl mit.»
Mittlerweile waren wir fast bis zur Hexe vorgerückt. Kit und ich bildeten das Schlusslicht unserer Gruppe, die sich immer dichter aneinanderdrängte und ziemlich still geworden war – kein Vergleich mehr zu der aufgeregten Truppe von vorhin. Ihr Blick war starr auf uns gerichtet. Runzelig, weiß und gierig glotzte uns das Gesicht unserer Albträume entgegen.
«Geht schnell vorbei», murmelte ich. «Weiter vorn liegen noch jede Menge.»
«Oh,
jede Menge
!», rief Misskaella. Ich fuhr vor Schreck zusammen und erstarrte.
«Aber bei der alten Misskaella will wohl niemand Rast machen und sich einhäkeln lassen, was? Niemand will, dass ich ein leckeres Würstchen im Schlafrock aus ihm mache, wie?» Ihre Augen glupschten aus ihren Höhlen wie feucht schimmernde Krebse aus einem Felswasserbecken. Ich hätte mir augenblicklich in die Hose gemacht, hätte ich auch nur ein Tröpfchen Flüssigkeit in mir gehabt.
«Wir sammeln nur Seeherzen, Misskaella», sagte Grinny höflich, und ich war ihm dankbar, dass er ihren Blick von mir ablenkte.
«Nur!», sagte sie mit einer Stimme, die Blech hätte zerschneiden können. «Wir sammeln
nur
Seeherzen!»
«Genau, für unsere Mums zum Abendessen.»
Sie schnaubte, und aus ihrer Nase flog etwas Eitriges auf die Decke. Verbissen häkelte sie weiter. Bei dem knirschenden Geräusch, mit dem die knöcherne Häkelnadel durch das Seegras fuhr, zogen sich meine winzigen Weichteile zusammen und verkrochen sich fluchtartig in meinen Körper wie aufgescheuchte Mäuse in ihr Mauseloch. «Gut so. Haltet sie schön bei Laune, eure hübschen Mums, haltet sie nur schön bei Laune.»
Vor Schreck über die Gehässigkeit in ihrer Stimme schwiegen wir, doch dann nahm Grinny all seinen Mut zusammen und sagte: «Genau das haben wir vor, gnädige Frau.»
«Komm mir bloß nicht mit
Weitere Kostenlose Bücher