Seeherzen (German Edition)

Laut kommt aus mir heraus. Drei Babys. Drei Jungen.
Niemand darf davon erfahren.
    Vor lauter Staunen kann ich nicht mehr klar denken. Ich setze mich auf eine Kiste und bleibe eine Weile dort sitzen, flüstere die Namen immer wieder vor mich hin.
    Da fällt mir wieder ein, wie ich sie damals, als ich mit Penelope schwanger war, fragte:
Sollte ich mir nicht eine Hebamme suchen?
    Du hast schon eine
, antwortete sie.
    Wieso das, wem hast du denn bei der Geburt geholfen? Den Robbenfrauen? Sind die untenrum genauso gebaut wie wir?
    Nein, es waren keine Robbenfrauen.
    Von wem waren die Babys denn dann?
    Sie muss sich ins Fäustchen gelacht haben, schließlich stand die Antwort direkt vor mir.
Es waren Menschenbabys, sagte sie. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.
    Ean, Froman, Hugh. Wo fange ich an mit den Fragen, die ich ihr nicht mehr stellen kann?
    Ich breite Klein Eans Nachthemd auf meinem Schoß aus. «Vielleicht warst du zu klein, um zu überleben. Ihr alle», fügte ich mit einem Kopfnicken in Richtung der anderen Hemdchen in der Schublade hinzu, «wart wahrscheinlich zu klein oder kränklich. Viele Frauen haben Kinder, die nicht richtig wachsen.»
    Sie antworten nicht, verflucht! Sie liegen dort, wie seit jeher, ganz unschuldig und schweigsam.
    «Aber von
wem
?», frage ich. «Von wem seid ihr? Wer von den Männern auf der Insel hat Miss mit euch geschwängert?»
    Ich werde es herausfinden, das schwöre ich mir. Jedem Mann, dem ich die Nachricht von Miss’ Tod überbringen werde, werde ich genau in die Augen sehen. Ich werde rumschnüffeln und mich umhorchen, ohne preiszugeben, was ich weiß, bis sich derjenige verplappert – der Vater oder die drei Väter, falls es drei verschiedene sind. Ich werde es herausfinden, und wenn es nur dazu dient, dass meine eigene Seele Ruhe findet. Ich lasse mich von der alten Krähe nicht übers Ohr hauen. Für wen hält die sich eigentlich, dass sie mir die ganzen Jahre nie etwas davon erzählt hat? Was hätten wir uns über die Väter vor Lachen gebogen, so wie wir uns über die Väter meiner Mädchen kaputtgelacht haben – sobald wir erkennen konnten, wer der jeweilige Vater war, einer von den alten Knackern, die sich nach heißblütiger Liebe mit einer Rothaarigen gesehnt hatten, oder einer von den schlaksigen Jungs, deren Geld noch nicht für eine Meerfrau gelangt hatte. Warum hatte mir die alte Missk diesen Spaß nicht gegönnt?
    Ich lege die Nachthemdchen wieder zusammen, wickle sie in das Seidenpapier ein, nehme sie heraus und schließe die Schublade. Ich raffe alles zusammen, was ich gefunden habe, schleiche zurück zum Treppenabsatz und zur Haustür hinunter. Ich packe die Schuhe, das Bestattungskleid und die Päckchen in den Korb; ich wurschtle mich in die Mäntel und wickle mir den Schal um. Ich muss nur einmal an Miss’ Mantelkragen schnuppern, und schon sehe ich sie vor mir, wie sie meine Farthing anblafft und finster aufs Meer hinausblickt. Ich schnalle mir den Korb auf und trete in das stürmische Schneetreiben hinaus.
    Der Wind schubst mich wieder bergab durch die rutschigen Straßen von Potshead. Die ganze Strecke über zerrt und nestelt er an dem Korb auf meinem Rücken, als würde er ihn am liebsten aufstoßen und ihm die drei kleinen Geheimnisse entreißen, die Miss mit ins Grab nehmen will. Er würde sie hoch in die Luft schleudern, wenn ich ihn nur ließe, und eine Weile im Sturm und im Schnee mit ihnen herumtanzen. Dann würde er sie vielleicht weit draußen über dem Meer fallen lassen oder landeinwärts zwischen den Felsen hinter dem Windaway Peak – oder vielleicht sogar ganz in der Nähe auf einer Düne, einem Feld, einem Hausdach oder einer Kopfsteinpflasterstraße, ohne sich auch nur einen Deut darum zu scheren, wer sie zu sehen bekommt und wer davon erfährt.

Danksagung
    Ich danke Keith Stevenson für sein Angebot, eine Geschichte für seinen Novellensammelband X 6 (Coeur de Lion Publishing, Australien, 2009 ) zu schreiben. Damals entstand die Erzählung «Sea-Hearts».
    Dani Napton und Jill Grinberg danke ich dafür, dass sie mich ermutigten, die Geschichte auszubauen, und Jodie Webster, Rosalind Price, Bella Pearson, Nancy Siscoe, Simon Mason und Linda Sargent für ihre wertvolle Beratung während des Schreibens, die mir half, die Erzählung in ihre jetzige Romanform zu überführen.

Über Margo Lanagan
    Margo Lanagan ist eine hochgepriesene australische Autorin und zweimalige Gewinnerin des Michael-L.-Printz-Ehrenpreises sowie