Seelen der Nacht
wüsste kein Restaurant, dessen Speisekarte einen Vampir ansprechen würde.«
»Ich werde ihn bestimmt nicht wiedersehen. Seiner Visitenkarte nach leitet er drei Labore und hat obendrein zwei Posten in der Fakultät inne.«
»Typisch«, murmelte Sarah. »Das kommt davon, wenn man zu viel Zeit hat. Und hör auf, an deiner Decke herumzuzupfen – du wirst noch ein Loch hineinreißen.« Sie hatte ihren Hexenradar auf volle Kraft geschaltet und hörte mich jetzt nicht nur, sondern sah mich auch.
»Ihr tut beinahe so, als würde er alten Damen die Handtasche klauen oder die Leute mit Börsenspekulationen um ihr Vermögen bringen«, entgegnete ich. Sarah konnte einfach nicht verwinden, dass die meisten Vampire unermesslich reich waren. »Er ist Biochemiker und irgendwie Mediziner und interessiert sich vor allem fürs Gehirn.«
Sarah schnaubte. »Was will er nur von dir? Vampire und Hexen daten sich nicht. Es sei denn, er wollte dich zum Abendessen. Sie lieben nichts so sehr wie den Geschmack von Hexenblut.«
»Vielleicht war er nur neugierig. Oder er interessiert sich tatsächlich
für deine Arbeit.« Aus Ems Stimme sprach ein solcher Zweifel, dass ich lachen musste.
»Wir würden dieses Gespräch gar nicht führen, wenn du ein paar grundlegende Vorsichtsmaßnahmen beherzigen würdest«, meinte Sarah schnippisch. »Ein Schutzzauber oder du nutzt deine Fähigkeiten als Seherin, und schon …«
»Ich werde weder Magie noch Hexerei einsetzen, um herauszufinden, warum sich ein Vampir mit mir verabreden will«, verkündete ich fest. »Das ist nicht verhandelbar, Sarah.«
»Dann ruf uns nicht an und frag nach Antworten, wenn du sie nicht hören willst.« Wieder einmal brach Sarahs berüchtigtes Temperament durch. Bevor ich mir eine Antwort überlegen konnte, hatte sie schon aufgelegt.
»Sarah macht sich wirklich Sorgen um dich, weißt du?«, entschuldigte sich Em für ihre aufbrausende Partnerin. »Und sie versteht nicht, warum du deine Gabe nicht einmal einsetzen willst, um dich zu schützen.«
Weil an diese Gabe zu viele Bedingungen geknüpft waren, wie ich ihnen schon oft erklärt hatte. Ich probierte es noch einmal.
»Weil ich das nicht einreißen lassen will, Em. Heute schütze ich mich in der Bibliothek vor einem Vampir und morgen im Hörsaal vor einer schwierigen Frage. Und bald wähle ich meine Forschungsschwerpunkte danach aus, was sie für Ergebnisse bringen werden, und bewerbe mich nur noch für Stipendien, die ich hundertprozentig bekomme. Es ist mir wichtig, dass ich mir meinen Ruf wirklich verdiene. Sobald ich anfange, Magie einzusetzen, gehört nichts mehr wirklich mir. Ich will nicht die nächste Hexe in unserer Familie werden.« Ich öffnete den Mund und wollte Em schon von Ashmole 782 erzählen, aber etwas ließ mich verstummen.
»Ich weiß, ich weiß, Schatz«, besänftigte mich Em. »Ich verstehe dich wirklich. Aber Sarah sorgt sich trotzdem um deine Sicherheit. Du bist inzwischen ihre einzige Verwandte.«
Meine Finger glitten durch mein Haar und kamen an meinen Schläfen zu liegen. Gespräche wie dieses führten irgendwann unweigerlich
zu meiner Mutter und meinem Vater. Ich zögerte, weil ich nicht wusste, ob ich meine größte Sorge aussprechen sollte.
»Was ist?« Ems sechster Sinn hatte mein Zögern registriert.
»Er wusste, wie ich heiße. Ich habe ihn noch nie gesehen, aber er wusste, wer ich bin.«
Em überdachte die verschiedenen Möglichkeiten. »Dein Bild ist doch auf dem Umschlag deines neuesten Buches abgedruckt, oder nicht?«
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte, aber jetzt atmete ich hörbar erleichtert aus. »Ja. Das muss es sein. Wie albern. Kannst du Sarah einen Kuss von mir geben?«
»Aber sowieso. Und Diana? Pass auf dich auf. Vielleicht sind die englischen Vampire uns Hexen gegenüber nicht so anständig wie die amerikanischen.«
Ich lächelte, weil ich an Matthew Clairmonts formvollendete Verbeugung denken musste. »Ich passe auf. Aber mach dir keine Sorgen. Wahrscheinlich werde ich ihn nie wiedersehen.«
Em blieb still.
»Em?«, hakte ich nach.
»Das werden wir sehen.«
Em war nicht so gut darin, in die Zukunft zu blicken, wie meine Mutter es angeblich gewesen war, doch etwas nagte an ihr. Eine Hexe überreden zu wollen, dass sie eine vage Vorahnung preisgab, war ein Ding der Unmöglichkeit. Sie würde mir nicht verraten, was sie an Matthew Clairmont so beunruhigte. Noch nicht.
3
D er Vampir saß im Schatten auf dem Dach der
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