Seelen der Nacht
hatte, heraus, und die dunklen Ringe unter meinen Augen ließen sie heller leuchten als sonst. Die Müdigkeit ließ auch meine Nase länger und mein Kinn spitzer wirken. Ich dachte an den perfekten Professor Clairmont und fragte mich, wie er wohl nach dem Aufstehen aussah. Wahrscheinlich genauso herausgeputzt wie gestern Abend, vermutete ich – dieses Tier. Ich zog meinem Spiegelbild eine Grimasse.
In der Tür zum Treppenhaus blieb ich stehen und ließ den Blick noch einmal durch mein Apartment schweifen. Irgendetwas ließ mir keine Ruhe – etwas wie eine vergessene Verabredung oder ein Abgabetermin. Ich war dabei, etwas Wichtiges zu übersehen. Eine Art Beklemmung ergriff meinen Magen, presste ihn kurz zusammen und löste sich dann wieder. Nachdem ich meinen Terminkalender und den Briefstapel auf meinem Schreibtisch durchgesehen hatte, schrieb ich das flaue Gefühl als Hunger ab und ging nach unten. Die zuvorkommenden Damen in der Mensa boten mir einen Toast an, als ich vorbeikam. Sie kannten mich noch aus meiner Zeit als Studentin und versuchten mich immer noch mit Apfelkuchen und Vanillesoße zwangszuernähren, wenn ich gestresst aussah.
Während ich an meinem Toast kauend über die Pflastersteine in der New College Lane klapperte, kam ich allmählich zu der Überzeugung, dass ich die letzte Nacht nur geträumt hatte. Meine Haare strichen über meinen Kragen, und mein Atem dampfte in der kalten Luft. Am Morgen war Oxford im Grunde eine ganz normale Stadt, vor den Collegeküchen warteten Lieferwagen, es roch nach Kaffee und feuchtem Asphalt, und frische Sonnenstrahlen bohrten sich durch den Morgendunst. Es war kein Ort, an dem man Vampire vermutet hätte.
Der Bibliothekspförtner in seiner blauen Jacke prüfte wie üblich umständlich meinen Leseausweis, so als hätte er mich noch nie gesehen oder würde mich insgeheim für einen genialen Bücherdieb halten. Schließlich winkte er mich durch. Nachdem ich das Portemonnaie, den Computer und die Notizen aus meiner Tasche genommen hatte, stellte ich sie in einem der Aufbewahrungsfächer neben der Tür ab, packte die Schreibutensilien in eine der erlaubten durchsichtigen
Plastiktüten und stieg die gewundene Holztreppe in den dritten Stock hinauf.
Der Bibliotheksgeruch machte mir jedes Mal gute Laune – diese ganz eigene Mischung von alten Mauern, Staub, Holzwurm und echtem Hadernpapier. Die Sonne schien durch die Fenster an den Treppenabsätzen, bestrahlte die Staubmotten, die durch die Luft flatterten, und legte helle Lichtbalken auf die uralten Wände. Dort beleuchtete die Sonne die schon angegilbten Ankündigungszettel für die Vorlesungsreihen des letzten Semesters. Die neuen Anschläge waren noch nicht angebracht, dabei waren es nur noch wenige Tage, bis sich die Schleusen wieder öffneten und eine Flut von Studenten in die Stadt strömen würde, um sie aus ihrer Lethargie zu reißen.
Leise summend nickte ich den Büsten von Thomas Bodley und König Charles dem Ersten zu, die den Bogeneingang zum Duke-Humfrey-Lesesaal flankierten, und stieß dann die Schwingtür vor der Ausleihe auf.
»Wir müssen ihn heute im Selden End unterbringen«, meinte der Abteilungsleiter eben angespannt.
Die Bibliothek war erst seit wenigen Minuten geöffnet, und schon standen Mr Johnson und sein Team unter Strom. Ich hatte sie schon mehrmals so aufgelöst gesehen, aber nur, wenn hochrangige Gelehrte erwartet wurden.
»Er hat seine Literaturliste schon eingereicht und wartet unten.« Die mir unbekannte Bibliothekarin von gestern warf mir einen finsteren Blick zu und wuchtete den Bücherstapel in ihren Armen zurecht. »Die hier sind auch für ihn. Er hat sie aus dem Lesesaal der New Bodleian hochschicken lassen.«
Dort wurde die, ostasiatische Literatur aufbewahrt. Das war nicht mein Feld, darum verlor ich augenblicklich das Interesse.
»Bringen Sie ihm die, und sagen Sie ihm, dass wir die übrigen Manuskripte in der nächsten Stunde nach unten bringen werden.« Der Abteilungsleiter klang entnervt und verschwand in seinem Büro.
Sean verdrehte die Augen, als ich an die Ausleihtheke trat. »Hi, Diana. Du willst die Manuskripte, die du dir hast zurücklegen lassen?«
»Danke«, flüsterte ich und dachte genüsslich an den Manuskriptstapel, der auf mich wartete. »Großer Tag, wie?«
»Sieht ganz so aus«, antwortete er trocken und verschwand gleich darauf in dem vergitterten Verschlag, in dem die Manuskripte über Nacht aufbewahrt wurden. Dann kehrte er mit meinen
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