Seelen der Nacht
wer wäre so verrückt, so viele Informationen an einem einzigen Fleck zu speichern?«
»Genau wie bei den Legenden über Hexen und Vampire steckt auch in den vielen Geschichten über das Manuskript ein Körnchen Wahrheit. Wir müssen nur überlegen, worin dieses Körnchen bestehen könnte, und den Rest aussieben. Dann werden wir verstehen.«
Nichts in Matthews Miene ließ erkennen, dass er mich benutzen oder im Dunkeln tappen lassen wollte. Ermutigt von dem »Wir« in seiner Bemerkung beschloss ich, dass er noch mehr Informationen verdient hatte.
»Mit Ashmole 782 liegst du ganz richtig. Das Buch, das du suchst, steckt darin.«
»Erzähl weiter.« Matthew bemühte sich, seine Neugier zu zügeln.
»Oberflächlich betrachtet handelt es sich um ein alchemistisches Manuskript. Die Bilder enthalten Fehler oder bewusst falsche Darstellungen – ich weiß noch nicht genau.« Konzentriert nagte ich an meiner Unterlippe, und sein Blick wurde magisch von der kleinen Stelle angezogen, an der meine Zähne eine winzige Blutperle austreten ließen.
»Was meinst du mit ›oberflächlich betrachtet handelt es sich dabei
um ein alchemistisches Manuskript‹?« Matthew hielt sich das Glas unter die Nase.
»Es ist ein Palimpsest. Aber die Tinte wurde nicht ausgewaschen. Der Text liegt unter einem Zauber verborgen. Ich hätte die Worte beinahe übersehen, so gut sind sie versteckt. Aber beim Umblättern fiel das Licht im richtigen Winkel auf das Pergament, und ich konnte erkennen, wie sich die Schrift darunter bewegt.«
»Konntest du etwas lesen?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Falls Ashmole 782 tatsächlich Informationen darüber enthält, wer wir sind, wie wir entstanden sind und wie wir vernichtet werden könnten, dann wurden sie gut verborgen.«
»Meinetwegen können sie gern verborgen bleiben«, erklärte Matthew grimmig. »Wenigstens vorerst. Allerdings dauert es nicht mehr lange, bis wir dieses Buch brauchen werden.«
»Warum? Warum sollten wir es ausgerechnet jetzt brauchen?«
»Das würde ich dir lieber zeigen als erklären. Kannst du morgen in mein Labor kommen?«
Ich nickte verwundert.
»Wir könnten nach dem Mittagessen hingehen.« Er stand auf und streckte sich. Über unserem Gespräch hatten wir die ganze Flasche geleert. »Es ist schon spät. Ich sollte jetzt gehen.«
Matthew griff nach dem Türknauf und drehte ihn. Er klapperte, und sofort sprang der Riegel zurück.
Er stutzte. »Hattest du Probleme mit deinem Schloss?«
»Nein«, sagte ich und schob den Riegel mehrmals vor und zurück. »Nicht dass ich wüsste.«
»Du solltest das Schloss von jemandem anschauen lassen«, sagte er und rüttelte wieder an dem Knauf. »Sonst schließt es vielleicht nicht richtig.«
Als ich von dem Schloss aufsah, zuckte eine nicht zu benennende Emotion über sein Gesicht.
»Wie schade, dass der Abend so ernst endete«, sagte er sanft. »Ich fand es nämlich sehr nett bei dir.«
»War das Essen wirklich okay für dich?«, fragte ich. Wir hatten uns über die Geheimnisse des Universums unterhalten, aber im Moment machte ich mir vor allem Sorgen, ob sein Magen rebellieren würde.
»Es war besser als okay«, versicherte er mir.
Ich blickte in sein wunderbares, uraltes Antlitz und merkte, wie sich mein Gesicht entspannte. Wie konnte jemand auf der Straße an ihm vorbeigehen, ohne sich nach ihm umzudrehen? Ehe ich mich’s versah, hatten sich meine Zehen in den alten Teppich gebohrt, und ich reckte mich hoch, um ihm einen kurzen Kuss auf die Wange zu geben. Seine Haut fühlte sich glatt und kühl an wie Satin, und meine Lippen wirkten auf seinem Fleisch ungewöhnlich warm.
Warum hast du das gemacht?, fragte ich mich, sobald ich wieder auf den Fersen stand und auf den wackligen Türknauf starrte, um meine Verwirrung zu überspielen.
All das hatte sich innerhalb weniger Sekunden abgespielt, aber wie ich wusste, seit ich die Notes and Queries aus dem Regal in der Bodleian gezaubert hatte, genügten ein paar Sekunden, um ein ganzes Leben umzukrempeln.
Matthew sah mich aufmerksam an. Als ich weder hysterisch wurde, noch um mein Leben zu rennen begann, beugte er sich vor und küsste mich langsam links und rechts auf die Wange wie ein Franzose. Während sein Gesicht über meines strich, inhalierte er tief mein Weidensaft- und Geißblattaroma. Als er sich wieder aufrichtete, wirkte sein Blick verschleiert.
»Gute Nacht, Diana«, sagte er lächelnd.
Im nächsten Moment lehnte ich an der geschlossenen Tür, und
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