Seelen der Nacht
eindrucksvoll war, wie ihr alle zu glauben scheint. Er war einfach ein Florentiner Politiker – und nicht einmal ein besonders guter.« In seiner Stimme lag leichte Müdigkeit.
Matthew Clairmont war über fünfzehnhundert Jahre alt.
»Ich sollte nicht so nachbohren«, meinte ich halb entschuldigend und halb verwundert darüber, dass ich tatsächlich geglaubt hatte, ich würde mehr über den Vampir erfahren, indem ich erfragte, welchen historischen Ereignissen er beigewohnt hatte. Eine Zeile von Ben Jonson, einem Zeitgenossen Shakespeares, kam mir in den Sinn. Sie schien Matthew eher zu erfassen, als es die Krönung von Karl dem Großen vermochte. »Er war kein Mann eines Zeitalters, sondern für alle Zeit!«, murmelte ich.
»Zur Seite dir, vergess ich ganz die Zeit«, parierte er mit einem Vers von John Milton aus dem siebzehnten Jahrhundert.
Wir sahen uns an, bis wir es kaum noch aushielten, und spannen dabei den nächsten zerbrechlichen Zauber. Ich zerbrach ihn prompt.
»Was hast du im Herbst 1859 gemacht?«
Sein Gesicht verdunkelte sich. »Was hat Peter Knox dir erzählt?«
»Dass du bestimmt keine Hexe in deine Geheimnisse einweihen würdest.« Meine Stimme blieb ruhiger als ich selbst.
»Wirklich?« Matthew klang weniger wütend, als er mit Sicherheit war. Ich sah es an der Anspannung in seinem Kiefer und seinen Schultern. »Im September 1859 habe ich die Handschriften im Ashmolean Museum studiert.«
»Warum, Matthew?« Bitte erzähl es mir, flehte ich ihn innerlich an und kreuzte gleichzeitig die Finger im Schoß. Ich hatte ihn so lange provoziert, bis er mir den ersten Teil seines Geheimnisses offenbart hatte, aber den Rest sollte er mir freiwillig erzählen. Keine Spiele, keine Rätsel. Erzähl es mir einfach.
»Ich hatte gerade ein Manuskript gelesen, das bald in Druck gehen
sollte. Ein Naturforscher in Cambridge hatte es verfasst.« Matthew stellte sein Glas ab.
Meine Hand flog an meinen Mund, als mir aufging, was das für ein Datum war. Vom Ursprung. Genau wie bei Newtons großem Werk über die Physik, der Principia , brauchte man bei diesem Werk nicht den ganzen Titel zu zitieren. Jeder, der sich in der Schule mit Biologie beschäftigt hatte, kannte Darwins Vom Ursprung der Arten.
»Im vorangegangenen Sommer hatte Darwin seine Theorie der natürlichen Auslese schon in einem Artikel skizziert, doch dieses Buch war völlig anders. Es war faszinierend, wie er von leicht zu beobachtenden Veränderungen in der Natur ausging und den Leser dann Schritt für Schritt dazu brachte, etwas so Revolutionäres zu akzeptieren.«
»Aber Alchemie hat nichts mit Evolution zu tun.« Ich griff nach der Weinflasche und schenkte mir noch etwas von dem kostbaren Wein ein. Im Moment machte ich mir weniger Sorgen, dass er sich in Luft auflösen, sondern eher, dass ich den Verstand verlieren könnte.
»Lamarck glaubte, dass jede Spezies von unterschiedlichen Vorfahren abstammte. Das ähnelt verblüffend dem, was deine Alchemisten glaubten – dass es sich bei dem Stein der Weisen um das noch unbekannte Endergebnis einer natürlichen Transmutation einfacher Stoffe in höherwertige Metalle wie Kupfer, Silber und Gold handeln müsse.« Matthew streckte die Hand nach der Flasche aus, und ich reichte sie ihm.
»Aber Darwin war anderer Meinung als Lamarck, selbst wenn er in seinen ersten Schriften über die Evolution denselben Begriff – Transmutation – verwendete.«
»Er verwarf die Vorstellung von linearen Transmutationen, das stimmt. Trotzdem kann man Darwins Theorie der natürlichen Auslese als eine Abfolge von verschiedenen, miteinander verbundenen Transmutationen betrachten.«
Vielleicht hatte Matthew recht, und es steckte tatsächlich in allem Magie. Sie steckte in Newtons Theorie über die Schwerkraft und möglicherweise auch in Darwins Evolutionstheorie.
»Überall in der Welt finden sich alchemistische Handschriften.« Ich gab mir Mühe, die Details nicht aus dem Blick zu verlieren, während ich das große Bild zu erfassen versuchte. »Warum ausgerechnet die Manuskripte von Ashmole?«
»Als ich Darwin las und erkannte, wie er die alchemistische Theorie der Transmutationen auf die Biologie zu übertragen schien, fielen mir Geschichten über ein mysteriöses Buch ein, in dem es angeblich um den Ursprung unserer drei Arten ging – der Dämonen, Hexen und Vampire. Ich hatte diese Erzählungen immer als Fantasterei abgetan.« Er trank einen Schluck Wein. »Die meisten Berichte deuteten an,
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