Seelen der Nacht
konnte.
Matthew beobachtete gespannt, wie ich reagieren würde. »Nimm einen Schluck«, schlug er vor.
Die süßen Aromen des Weines explodierten in meinem Mund. Aprikosen und Vanillesoße aus der Collegeküche purzelten über meine
Zunge, und mein Mund prickelte noch lange nachdem ich den Wein hinuntergeschluckt hatte. Es war, als würde ich Magie trinken.
»Was ist das?«, fragte ich schließlich, als der Geschmack abgeklungen war.
»Er wurde aus Trauben gekeltert, die vor langer, langer Zeit geerntet wurden. Es war ein heißer, sonniger Sommer.«
»Man schmeckt den Sonnenschein«, sagte ich und verdiente mir damit das nächste verzaubernde Lächeln.
»Während der Ernte schoss ein Komet über die Weinberge. Die Astronomen hatten ihn schon Monate zuvor in ihren Teleskopen beobachtet, aber im Oktober strahlte er so hell, dass man in seinem Licht beinahe lesen konnte. Die Winzer nahmen das als Zeichen, dass die Ernte gesegnet sei.«
»War das 1986? War das der Halley’sche Komet?«
Matthew schüttelte den Kopf. »Nein. Es war 1811.« Ich blickte fassungslos auf den fast zweihundert Jahre alten Wein in meinem Glas, als befürchtete ich, er könnte sich vor meinen Augen in Luft auflösen. »Halleys Komet kam 1759 und 1835.« Er sprach den Namen wie »Harley« aus.
»Wo hast du ihn her?« Jedenfalls nicht aus dem Weinladen neben dem Bahnhof, so viel stand fest.
»Ich habe ihn Antoine-Marie abgekauft, sobald er mir versichert hatte, dass es ein außergewöhnlicher Jahrgang werden würde«, erklärte er gut gelaunt.
Ich drehte die Flasche herum und betrachtete das Etikett genauer. Château Yquem. Selbst ich hatte schon davon gehört.
»Und seither hast du ihn aufbewahrt.« Er hatte 1615 in Paris Schokolade getrunken und 1536 von Heinrich dem Achten ein Grundstück geschenkt bekommen – warum sollte er nicht 1811 Wein gekauft haben? Außerdem war da immer noch die uralt aussehende Ampulle, die er um den Hals trug, wie ich an dem Band um seinen Nacken erkannte.
»Matthew«, sagte ich langsam und aufmerksam auf jedes Anzeichen von aufflammendem Ärger achtend. »Wie alt bist du eigentlich?«
Sein Mund erstarrte, aber seine Stimme klang heiter. »Jedenfalls älter, als ich aussehe.«
»Das weiß ich.« Ich konnte meine Ungeduld kaum zügeln.
»Warum ist dir mein Alter so wichtig?«
»Ich bin Historikerin. Wenn mir jemand erzählt, er könne sich daran erinnern, wie die Schokolade nach Frankreich kam oder wie 1811 ein Komet über den Himmel zog, dann fällt es mir schwer, nicht nachzufragen, was er sonst noch erlebt hat. 1536 hast du schon gelebt – ich war in dem Haus, das du damals gebaut hast. Hast du auch Machiavelli gekannt? Den Schwarzen Tod überlebt? Die Universität von Paris besucht, als Abaelard dort lehrte?«
Er blieb still. Meine Nackenhärchen begannen sich aufzustellen.
»Dein Pilgerzeichen verrät mir, dass du irgendwann im Heiligen Land warst. Warst du auf einem Kreuzzug dort? Hast du den Halley’schen Kometen auch 1066 über die Normandie ziehen sehen?«
Immer noch nichts.
»Der Krönung von Karl dem Großen beigewohnt? Den Fall von Karthago überlebt? Mitgeholfen, Attila von Rom fernzuhalten?«
Matthew hob den rechten Zeigefinger. »Welchen Fall Karthagos?«
»Sag du es mir!«
»Zum Teufel mit dir, Hamish Osborne«, murmelte er und krallte die Finger ins Tischtuch. Zum zweiten Mal in zwei Tagen wusste Matthew nicht, was er sagen sollte. Er starrte in die Kerze und zog dann den Finger langsam durch die Flamme. Sein Fleisch explodierte in zornigen roten Blasen und glättete sich gleich darauf wieder in weißer, kalter Perfektion, ohne dass auf seinem Gesicht auch nur der Anflug von Schmerz zu erkennen gewesen wäre.
»Ich glaube, dass mein Körper ungefähr siebenunddreißig Jahre alt ist. Ich wurde etwa zu der Zeit geboren, als Chlodwig zum Christentum konvertierte. Daran konnten sich meine Eltern erinnern, andernfalls hätte ich überhaupt keinen Anhaltspunkt. Damals interessierte sich niemand für Geburtstage. Es war viel praktischer, sich das Jahr fünfhundert zu merken und damit Schluss.« Er sah kurz zu mir auf und blickte dann wieder in die Kerze. »Als Vampir wiedergeboren
wurde ich 537, und mit Ausnahme Attilas – das war vor meiner Zeit – hast du die meisten Höhe- und Tiefpunkte des Jahrtausends erfasst, das ich durchlebte, bis ich den Grundstein zu meinem Haus in Woodstock legte. Ich muss dir allerdings sagen, dass Machiavelli bei Weitem nicht so
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