Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
kichern, aber jetzt liefen ihm dabei Tränen über die Wangen. Er musste sich doch daran erinnern! Wo waren sie gewesen? Er hatte den Geschmack von Hamburgern im Mund und erinnerte sich dunkel, in einem Imbiss gewesen zu sein. Mit Rún. Aber wo waren sie jetzt? Der Nebel wurde wieder dichter, und er wusste nichts mehr. Nichts drang zu ihm durch, bis auf die schreckliche Feststellung, dass er kostbare Energie daran verschwendet hatte, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die keine Rolle mehr spielten. Besser hätte er versucht, seine Tochter und sich aus dem Wagen zu retten. Rún. Liebste Rún. Elf Jahre alt. Zum Teufel mit ihm selbst. Er konnte gerade mal den Kopf zu ihr drehen. Er wollte schreien, hatte aber nicht genug Kraft. Da hing seine Tochter im Sicherheitsgurt, kämpfte vor seinen Augen mit dem Tod, und er konnte sich noch nicht einmal zu ihr beugen.
Óðinn kicherte, während ihm Tränen übers Gesicht liefen. Diese ganze Heiterkeit konnte ihm gestohlen bleiben. Wer wollte schon im Moment seines Todes wie besoffen sein? Während das eigene Kind mit dem Tod kämpfte? Niemand. Er stieß ein Röcheln aus, eine Mischung aus Husten und Lachen. Es ging zu Ende, und er konnte nichts mehr ändern. Er hatte versagt. Andere Väter hätten es vielleicht geschafft, die Tür aufzumachen, sich zur Beifahrerseite zu schleppen und ihr Kind in Sicherheit zu bringen. Man musste das Garagentor nur einen Spalt weit öffnen, um sie beide zu retten. Oder zumindest Rún. Sein eigenes Schicksal wäre ihm egal, wenn sie überleben würde.
Nun lach noch ein letztes Mal, befahl sein Gehirn. Óðinn gehorchte und lachte lauthals, jedoch ohne dabei durchgeschüttelt zu werden, er lachte entkräftet und aller Freude beraubt. Dann verstummte er, und seine nebligen Gedanken wurden plötzlich klarer. Er erinnerte sich, wo sie waren, konnte sich aber keinen Reim darauf machen, wie sie dorthin gekommen waren. Er erinnerte sich, warum Lára eine Rolle spielte, obwohl sie tot war. Er erinnerte sich an die beiden Jungen, die einst auf die gleiche Weise gestorben waren. Und vor allem wusste er, wer seine Tochter und ihn in diese Lage gebracht hatte. Die Wut unternahm einen schwachen Versuch, Besitz von ihm zu ergreifen, doch vor der Trauer in seiner Brust wich sogar seine trunkene Fröhlichkeit. Es gab nichts mehr zu lachen.
Óðinn konnte nicht mehr länger den Atem anhalten. Das war das Ende. Er öffnete den Mund und sog die säuerliche Luft ein.
1. Kapitel
Óðinn Hafsteinsson vermisste es, einen Hammer in der Hand zu halten, mit dem Stiel auszuholen und auf einen galvanisierten 4-Zoll-Nagel einzuschlagen. Während seines Studiums hatte er keine Minute länger als nötig über den Büchern gesessen und nach dem Abschluss den Job im Ingenieurbüro schnell aufgegeben, weil er dort dazu verurteilt gewesen war, vor dem Computer zu hocken. Später hatte Óðinn seine Berufung dann in der Baufirma seines Bruders gefunden, wo er für die Angeboterstellung und die entsprechenden Berechnungen zuständig war. Obwohl er die meiste Zeit drinnen arbeiten musste, machte er gelegentlich Abstecher auf die Baustelle und konnte sich dort verausgaben. Ein Traumjob. Doch jetzt war er wieder ein Bürohengst, blass und unscheinbar nach drei Monaten Eingesperrtsein, Langeweile und Lethargie. Und dieser Tag war einer der schlimmeren, draußen stürmte es, alle Fenster waren geschlossen und sein Kopf dröhnte, was noch zunahm, als er zu Heimir Tryggvason, dem Büroleiter, gerufen wurde.
Wie üblich schielte Heimir mit einem Auge seitwärts, und wie immer hatte Óðinn den Drang, in dieselbe Richtung zu schauen.
»Komm einfach zu mir, wenn du noch Fragen hast«, sagte Heimir. »Ich kenne den Fall zwar nicht sehr gut, kann dir aber vielleicht behilflich sein.«
Óðinn nickte nur, denn er hatte sich bereits zweimal für das Angebot bedankt.
»Das Wichtigste ist, den Umfang zu ermitteln und ein Gefühl dafür zu bekommen, ob es sich um eine tickende Zeitbombe handelt. Natürlich hoffen wir, dass dem nicht so ist, aber falls doch, könnten wir den Medien und der Welle des Mitgefühls, die dann losgetreten wird, vielleicht zur Abwechslung mal zuvorkommen. Das wäre nicht schlecht.« Ein spöttisches Lächeln schlich sich auf Heimirs Lippen, und sein Auge glitt so weit zur Seite, dass nur noch die halbe Pupille zu sehen war.
»Wäre es das? Ich glaube, ich weiß ungefähr, was ich zu tun habe. Ich mache da weiter, wo Róberta aufgehört hat, und schließe das
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