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Seelen

Titel: Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephenie Meyer
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Seine Stimme klang rau, als er versuchte, seinen Schmerz zu verbergen.
    Instinktiv verspürte ich das Verlangen, mich vorzubeugen und diese Träne wegzuwischen. Ich versuchte zunächst, es zu ignorieren; ich war schließlich nicht Melanie. Aber die Träne blieb dort bewegungslos hängen, als würde sie nie hinabfallen. Jamie hielt seinen Blick weiter auf die kahle Wand gerichtet und seine Lippen zitterten.
    Er saß nicht weit von mir entfernt. Ich streckte meinen Arm aus, um mit den Fingern über seine Wange zu wischen; die Träne verschwand unter meiner Berührung. Unwillkürlich ließ ich meine Hand auf seiner warmen Wange liegen und umschloss sein Gesicht.
    Einen kurzen Augenblick lang versuchte er mich zu ignorieren.
    Dann rutschte er mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen zu mir herüber. Er rollte sich neben mir zusammen, die Wange in die Kuhle an meiner Schulter gelegt, wo sie früher besser hingepasst hatte, und schluchzte.
    Dies waren nicht die Tränen eines Kindes und das machte sie noch ergreifender - dadurch wurde es noch bedeutsamer und schmerzhafter, dass er sie vor mir zuließ. Dies war der Kummer eines Mannes bei der Beerdigung seiner gesamten Familie.
    Ich umschlang ihn mit beiden Armen und weinte ebenfalls.
    »Es tut mir leid«, sagte ich immer und immer wieder. Mit diesen vier Worten entschuldigte ich mich für alles. Dafür, dass wir jemals diesen Ort entdeckt hatten. Dafür, dass wir uns dafür entschieden hatte. Dafür, dass ich diejenige war, die seine Schwester übernommen hatte. Dafür, dass ich sie hierhergebracht und ihm damit noch einmal wehgetan hatte. Dafür, dass ich ihn heute mit meinen unsensiblen Geschichten zum Weinen gebracht hatte.
    Ich ließ meine Arme nicht sinken als sein Schmerz verstummte; ich hatte es nicht eilig, ihn loszulassen. Es kam mir so vor, als hätte mein Körper von Anfang an danach gedürstet, aber ich hatte erst jetzt verstanden, was diesen Durst löschen konnte. Die geheimnisvolle Mutter-Kind-Bindung, die auf diesem Planeten so stark war, war nicht länger ein Geheimnis für mich. Es gab keine engere Bindung als die, die dein Leben für ein anderes forderte. Ich hatte diese Wahrheit auch vorher schon gekannt; was ich nicht verstanden hatte, war, warum . Jetzt wusste ich, warum eine Mutter für ihr Kind ihr Leben hergeben würde, und dieses Wissen würde die Art, wie ich das Universum sah, für immer beeinflussen.
    »Das habe ich dir aber nicht beigebracht, Junge.«
    Wir fuhren auseinander. Jamie kam schwankend auf die Beine, aber ich duckte mich und drückte mich an die Wand.
    Jeb bückte sich und hob das Gewehr, das wir beide vergessen hatten, vom Boden auf. »Auf ein Gewehr musst du besser aufpassen, Jamie.« Seine Stimme klang sanft, was die Kritik etwas abmilderte. Er streckte die Hand aus, um Jamies zottelige Haare zu zerzausen.
    Jamie duckte sich unter Jebs Hand weg, sein Gesicht war dunkelrot vor Scham.
    »Entschuldigung«, murmelte er und wandte sich ab, als wollte er fliehen. Nach nur einem Schritt hielt er jedoch inne drehte sich wieder um und sah mich an. »Ich weiß gar nicht, wie du heißt«, sagte er.
    »Man nennt mich Wanderer«, flüsterte ich.
    »Wanderer?«
    Ich nickte.
    Er nickte auch, dann eilte er davon. Sein Nacken war noch immer rot.
    Als er weg war, lehnte sich Jeb an die Felswand und ließ sich hinabgleiten, bis er da saß, wo auch Jamie anfangs gesessen hatte. Wie Jamie hatte er das Gewehr in seinem Schoß liegen.
    »Einen wirklich interessanten Namen hast du da«, sagte er. Offenbar war er wieder in Plauderstimmung. »Vielleicht erzählst du mir bei Gelegenheit, wie du dazu gekommen bist. Ich wette das ist eine gute Geschichte. Aber ganz schön lang, der Name findest du nicht? Wanderer?«
    Ich sah ihn an.
    »Ist es okay, wenn ich ihn abkürze und dich Wanda nenne? Das lässt sich leichter aussprechen.«
    Diesmal wartete er auf eine Antwort. Schließlich zuckte ich mit den Schultern. Es war mir egal, ob er mich ›Mädchen‹ nannte oder irgendeinen seltsamen menschlichen Spitznamen benutzte. Ich hatte den Eindruck, dass es nett gemeint war.
    »Also dann, Wanda.« Er lächelte, seine Erfindung gefiel ihm. »Es ist gut einen Namen für dich zu haben. Es kommt mir dadurch fast so vor, als wären wir alte Freunde.«
    Er grinste sein riesiges Grinsen von einem Ohr zum anderen und ich konnte nicht umhin zurückzulächeln, obwohl mein Lächeln eher traurig als vergnügt war. Er war eigentlich mein Feind. Er war wahrscheinlich

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