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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Beleidigungen schienen den Mann zu beleben. Erst jetzt wurde Jordan klar, warum er hergekommen war. Er wollte seine Angst sehen, in seiner Angst baden, Einblick in das Entsetzen dessen nehmen, der ihm nun ein ganzes Leben lang in Albträumen erscheinen würde. Diese Fähigkeit zu hassen war wohl Teil seiner Zähigkeit; wenn der Ekel und der Hass nicht gewesen wären, dann wäre er vielleicht über dem Gipspanzer Iwans mitsamt seines eigenen Panzers weinend zusammengebrochen. Jordan musste jetzt seine Stimme hören, um sich wieder orten zu können.
    Â»Sind die Blumen da von deiner Frau?«
    Der Schwerverletzte nickte mühsam mit dem Kopf.
    Â»Gibt es denn hier keine zweite Vase?«
    Verneinendes Kopfschütteln.
    Â»Gut denn«, sagte Jordan und richtete das Ende der Stiele seines Straußes auf das Gesicht des Verunfallten, »dann mach mal schön brav den Mund auf!«
15
    Der niedrige Sommerhimmel und das fette Grün hatten etwas apokalyptisch Dräuendes. Es war kühl, regnete aber nicht. Er bemerkte niemanden, wusste aber, dass sich die Leute um ihn drängten. Er unterschied die Gesichter von Freunden und Verwandten. Emilia sah erhaben aus in der Rolle der Mutter Courage. Alle wollten ihm unbedingt die Hand schütteln, als ob sie nicht Neda das letzte Geleit gaben, sondern er seinen Ausstand gab und sich irgendwohin verabschiedete.
    Die Trauerfeier in der Beisetzungshalle stieß ihn ab mit ihren Fackeln, den schwül-pathetischen Worten der Beerdigungsagentin, die – um den zahlreichen Trauergästen von hohem Rang und illustrem Namen zu gefallen – ihre Rede unnötig in die Länge zog und derart verkitschte, als sei der Tod ein erhabenes, dabei aber gemütliches Zuhause. Es roch nach welkenden Chrysanthemen, nach Angst und Vergänglichkeit. Neda lag im geöffneten Sarg wie aus Wachs gegossen, auf ewig in ihrem Schuldgefühl erstarrt, durchsichtig fast, einsam und verlassen.
    Jordan konnte sich einfach nicht konzentrieren. Er war erstaunlich ruhig, stakste wie betäubt durch den Gestank so vieler verschiedener Blumen, die sich gegenseitig nicht riechen konnten, die Beileidsbekundungen so vieler verschiedener Menschen, die hier zusammengepfercht saßen, als gelte es, das Unglück des Todes in einen prächtigen Festakt zu verwandeln, und empfand keinerlei Schmerz. In diesem Moment gab es keine Moral, denn alle Dinge hatten ihre Bedeutung schaffenden Verbindungen untereinander verloren. Draußen rauchte er erst mal eine. Dessislava gab ihm einen Kuss. Die Tränen seiner Halbschwester hatten noch den sorglosen Geschmack des Meeres. Es begann wieder zu nieseln.
    Das schwarz lackierte Elektrogefährt, das den fein gewirkten Tod zum aufgeworfenen Grab zog, war selbst so irdisch zerkratzt und hässlich wie das Leben. Jordan vergoss selbst da keine Träne, als er vor dem zahnlosen Gähnen des frisch aufgeworfenen Grabes stand. Er schwitzte nur die ganze Zeit, wie verrückt schwitzte er, so als weine er Neda durch den Körper aus sich heraus. Hatte sie da nicht eben erleichtert gelächelt, als man den Sargdeckel schloss und sie an Seilen in das Dunkel der Ewigkeit hinabließ?
    Auf dem von Trauerweiden flankierten Friedhofsweg schloss sein Chef zu ihm auf, hielt ihn an und schneuzte sich in sein Taschentuch. Auf seinen Wangen schimmerte es feucht. Gospodinov war ein sentimentaler Mensch, der das Leben in seiner ganzen Größe und Nichtigkeit erfasste. Seine Tränen galten im Grunde sich selbst, denn Jordan war sicher, dass sein Chef vor kaum einer Minute auf dem inneren Monitor seiner Einbildungskraft sich selbst hatte in die Grube fahren sehen. Im gemessenen Trauertonfall sagte er:
    Â»Ich möchte, dass du weißt, dass du auf mich zählen kannst, Weltschev. Überzeug mich am Samstag davon, dass noch Leben in dir ist, und du kannst auf mich zählen!«
16
    Nach der heißen Dürreperiode breitete sich über Bulgarien ein kalter, endloser Tiefdruckausläufer aus und brachte frustrierenden Dauerregen. Die Welt bekam eine bleigraue Patina, die Zeit kroch dahin, die Menschen waren ununterbrochen schläfrig. Das war der unwirtlichste Sommer, an den Dessislava sich erinnern konnte. Die Perestrojka zeigte sich vor allem daran, dass der Minirock wieder in Mode kam, und im Programmkino waren Filme zu sehen, die die Zensur jahrelang verboten hatte: Dolce Vita von Fellini, Der diskrete Charme der Bourgeoisie von

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