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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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wusste, dass es die Donau bei Widin sein musste. Ihr Vorüberströmen bei scheinbarem Stillstand, ihr kaum hörbares Rauschen und Gluckern, ihr Eingebettetsein zwischen Himmel und Erde, ihr Auftauchen und Verschwinden unter dem blinden Augenlid des Nebels, dann der Mond, der sich seinen silbernen Pfad über ihren bleigrauen Spiegel baute aus geschenktem Licht, der Geruch nach Sumpf, nach Fülle und schwerer Reife, ach, diese tröstenden Wasser, die den kleinen Assen aufgenommen hatten und Christo, ihre gescheiterte Mutterschaft und ihre gescheiterte Liebe.
    Diesen Fluss, der in ihrem Inneren floss, versuchte Dessislava manchmal anzuhalten, zu stauen, zum Verschwinden zu bringen, doch aus ihrem Unbewussten quollen die Wasser immer wieder neu, rauschten hartnäckig wie ein Ohrwurm, rissen Wurzeln, Schicksale, Fische und Boote mit sich, gebrochene Ruder, Städte und Jahrhunderte, ertrunkene Nixen und unwirksamen Zauber, unaufhaltsam und gleichgültig wie die Zeit, den Raum teilend in Strom und zwei Ufer. Wem es gelang, sich aus diesem Strom an Land zu retten, der war verurteilt, immer nur am einen oder am anderen Ufer zu sein, verdammt zur Einsamkeit.
    Manchmal kam es Dessislava so vor, als sei dieser Fluss, diese Flusslandschaft die ganze Welt in ihrer Dauer im Wechsel, achtlos und oberflächlich runtererzählt in den Medien, reduziert auf Informationsformat und portioniert in fassliche Häppchen für die Masse. Diese Häppchen in der bunten Vielfalt ihrer attraktiven Verpackungen machten die Welt zugleich klein und überschaubar und gaukelten den Menschen vor, es gäbe ständig aufregend Neues zu entdecken, zu kaufen. Doch der Fluss in Dessislava ließ sich nicht beirren: Auch dieser Novitätenwahn der Menschen war nichts als eine weitere Facette im alten Spiel des Wandels in der Wiederholung, eine Facette allerdings, die das Bisherige bereicherte und die Menschheit als Gattung in wachsender Fülle und Vielfalt dem Allumfassenden, der Unsterblichkeit des Meeres entgegenströmen ließ.
    So vieles ließ sich denken bei diesem Fluss, dem Fluss als Gleichnis, der Zeit, des Lebens, der Menschen und der Menschheit. Dabei waren die Dinge vielleicht ganz einfach, und Jonka hatte ihr den Strom geschickt, um in beharrlichem Fließen die rebellische Wut aus ihren Adern zu spülen und den Schmerz der Verzweiflung aus ihrem Herzen.

 
    Nachbemerkung
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    Zur Weltschev-Trilogie Vladimir Zarevs
    von Thomas Frahm
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    In den Jahren um 1968, als in Westeuropa die Elite der Intellektuellen sich engagiert, manchmal auch militant für die kommunistische Idee starkmacht, sitzt in der bulgarischen Hauptstadt Sofia ein junger Schriftsteller in seiner Dachmansarde und liest – die Bibel seiner Großmutter. Für Vladimir Zarev und seine Generation ist das Jahr 1968 nicht das der Studentenrevolution, sondern das des Prager Frühlings, und statt glühender Hoffnungen auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität, wie sie die jungen Leute im Westen auf ihre außerparlamentarischen Barrikaden treibt, legt sich eine bleierne Melancholie auf seine Schläfen. Das Einrollen der russischen Panzer in Prag war für den 21-Jährigen und seine Generation, die um die Jahre der Errichtung der Volksrepublik in Bulgarien (1944–1947) Geborenen, gleichbedeutend damit, dass der Sozialismus, real existierend, nicht zu reformieren war. Schon damals nicht. Und als wäre Zarev, der künftige Modernisierer und Schöpfer einer magisch-realistischen Erzählkultur mit originär bulgarischer Handschrift, selbst Teil eines schlechten Romans voller Klischees, ist er der Sohn eines Kommunisten, der als verdienter Partisan zum engsten Umkreis des langjährigen starken Mannes Todor Shivkov gehörte.
    Der Vater-Sohn-Konflikt war unausweichlich. Auf Vladimir Zarevs bohrende Fragen, wie er trotz allem am Kommunismus festhalten könne, entwarf der Vater dem Sohn das Bild einer Vergangenheit, in der konservative und repressive Regierungen sich schamlos am Volk bereicherten, in dem Provinzfürsten Wahlbetrug durch Stimmenkauf betrieben und ihre Macht gegenüber aufrührerisch gesinnten Untertanen, meist Lehrern oder Rechtsanwälten, notfalls auch durch Folter aufrechterhielten. Ihm selbst hatte ein Scherge mit dem Stiefel eine Niere zertreten, weil er die Namen seiner sozialistischen Gesinnungsgenossen nicht preisgeben wollte. Der Sozialismus, das war im Bulgarien der

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