Seelenasche
Buñuel, Letztes Jahr in Marienbad von Alain Resnais, Andrej Rubljow von Tarkowskij und Der Profi mit Jean Reno. Mitte August gab es einen Hagelsturm, dessen Körner die GröÃe von Hühnereiern erreichten, Sofias StraÃen verwandelten sich in Sturzbäche, die Unterführungen waren überflutet, und die Personenkraftfahrzeuge sahen aus, als hätten sie die Blattern gehabt. Im Sommer heiÃt die Freiheit Sonne, das Gefängnis Regen â¦
Dessislava saà stundenlang vor dem Fenster, starrte in die silbernen Regenpeitschen hinaus und gewann langsam den Eindruck, die Luft sei aus Wasserstrahlen schraffiert, die nie aufhörten. Sie zog zu Jordan und seiner Tochter Jana, kümmerte sich um den Haushalt, setzte sich mit der Kleinen hinter die Lesefibel, fütterte Turteltauben und strickte einen Pullover. Jordan hatte sich in sich selbst zurückgezogen wie eine belagerte Festung und lieà keine Schwäche aufkommen. Dessislava und er sprachen nie über Neda, so als wäre die bloà ins nächste VEB-Geschäft zum Einkaufen gegangen, oder als wäre der Tod etwas Unanständiges, über das man nicht sprach. Nur Jana weinte viel, nahm aber nicht an der Beerdigung teil und weigerte sich auch in der Folgezeit, sich mit dem Tod ihrer Mutter abzufinden. Inbrünstig wiederholte sie, die Mama sei nur weit weg verreist und käme irgendwann wieder.
»Wo ist sie jetzt?«, fragte das Kind.
»Unterwegs«, antwortete ihre Tante unbestimmt.
»Und wann kommt sie an?«
»Jederzeit«, lächelte Dessislava.
Seltsam, aber dieser absurde Dialog stillte den Schmerz des Kindes. Alles, was wir uns vorzustellen vermögen, existiert auch ,dachte Dessislava. Die Realität ist nur die Hülle, der sichtbare Teil der wahren Wirklichkeit!
»Und wann kommt die Mama zurück?«
»Wenn du einschläfst, Liebes.«
»Aha. Also wenn ich auch weg bin?«
Der Pullover wurde schön, richtig flauschig. Das Aneinanderreihen der Maschen zog sie in den Bann und erhielt auf suggestive Weise ihre Verbindung zu Jonka aufrecht. Während sie strickte, gab sie ihrer GroÃmutter die Möglichkeit, aus dem Jenseits hineinzulugen in diese Welt, und ihr dabei vielleicht einen Rat zu geben. Doch Jonka schwieg grausam.
Simeon begann nach der Prüfungsserie im Juni in einer TV-Krimi-Produktion des Studio X mitzuspielen. Er sollte die Rolle eines naiven Faulpelzes spielen, der rauschgiftsüchtig wurde und daher erpressbar. Nachmittags schaute er in der Mansarde vorbei, und wenn es nicht regnete, gingen sie zusammen mit Jana spazieren. Die drei sahen aus wie eine richtige Familie. Sie setzten sich in ein Café vor Radio Sofia und schwiegen stundenlang vor sich hin. Ab und zu erzählte er ihr von seinen neuen Kolleginnen, um sich wenigstens ein bisschen an Dessislavas Eifersucht laben zu können. Sie hielt mit ihren Ausbrüchen gespielten Zorns nicht hinterm Berg, und mit diesen kurzen, belebenden Krächen half sie ihm, seine männliche Ehre zu wahren. Einmal fragte sie ihn:
»Möchtest du, dass wir uns scheiden lassen?«
»Eher schon träume ich davon, dass wir endlich heiraten«, erwiderte er voller Ernst.
Simeon war ein geduldiger Mensch. Er begleitete die groÃe und die kleine Frau zur Ljuben-Karawelov-StraÃe und ging dann zu seiner Tante, wo er übernachtete. Gereizt von den Filmaufnahmen und von Dessislavas Wortkargheit, hatte er sich ein Kochbuch gekauft und fing an, kochen zu lernen. »Am schwersten sind die fleischlosen Gerichte«, konstatierte er ächzend. Das waren angenehme Abende, an denen sie aufhörte, Neda zu vermissen, und das Gefühl, dass alles zerfiel und in die Brüche ging, für eine Weile durch Ruhe und inneren Frieden abgelöst wurde.
»Onkel Sim und du, seid ihr verliebt?«, fragte Jana.
»Klar sind wir verliebt.«
»Aha, dann heiratet ihr also mal und kriegt Kinder?«
»Sieht ganz so aus, Liebes.«
»Und ich bin dann die groÃe Cousine?« Janas Augen funkelten listig.
»Ganz genau. Zieh mal deinen Strumpf hoch.«
»Gut, ich zieh ihn hoch ⦠und wo ist Mama?«
Eines unfreundlichen Abends saÃen sie im Park. Jana spielte an den Klettergerüsten. Die Parkwege waren leer, auf dem Asphalt gleiÃten Pfützen.
»Hamlet«, sagte Dessislava grämlich, »wozu brauchst du eigentlich eine Ehefrau wie mich?«
Das Licht war rostrot und trüb, als
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