Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
Erwachsensein in ein dauerhaftes Schuldgefühl zu verwandeln, dann würde sie seiner Liebe nicht widerstehen können. War es nicht so, dass das ständige Sündigen der Menschen die Reinheit Gottes aufrechterhielt, ja, der Grund aller Religion war, der Vergottung und Vergötterung? Denn wenn die Menschen sündig waren und dies als Schuld vor ihm bekannten, dann mussten sie sich ihm auch unterwerfen.
    Das Telefon schrillte irgendwie dreckig. Das konnte nur Evtimov sein. Jana schlief längst, Jordan las ein Buch und tat so, als sei er völlig in seine Lektüre versunken. Die Stille im Wohnzimmer war gespannt. Sie stand auf und ging mit dem Apparat in den Flur. Seine Stimme war erstickt, aber warm.
    Â»Ich muss dich unbedingt sehen.«
    Â»Und ich sagte Ihnen, ich bin in Trauer.«
    Â»Aber ich will dich doch gar nicht kränken.«
    Â»Und was dann? Mir Ihr Beileid aussprechen?«
    Â»Ich will dir nur sagen …« Er versank in seiner eigenen Stille. »… dass ich nicht leben kann ohne dich.«
    Â»Das sagten Sie bereits, Genosse Evtimov.«
    Â»Das ist nicht dasselbe, Dess, und das weißt du genau.«
    Â»Gut«, erwiderte sie, so ruhig sie konnte, »wir haben jetzt neun Uhr. In fünfzehn Minuten bin ich am Patriarchen-Denkmal.«
    Ihr Bruder tat immer noch so, als lese er. Dessislava brachte ihm den fertigen Pullover an seinen Platz neben dem Bücherschrank und bat ihn, ihn anzuprobieren. Das Rückenteil war ein bisschen schief geraten, aber ansonsten stand er ihm phantastisch. Er sah stämmiger aus in ihrem naturweißen Prachtstück, noch selbstsicherer, und genau das verstärkte seinen Kummer. Bei sehr starken Persönlichkeiten treten Schwächen immer am deutlichsten hervor.
    Â»Gefällt er dir?«
    Â»Und du, gehst du noch raus?«
    Â»Nein«, antwortete sie unlogisch, »ich denke eher, ich werde zurückkommen!«
    Draußen strömte monoton der Regen. Wann war endlich Schluss mit diesem nasskalten Sommer, zum Teufel, damit der trocken-warme Winter kommen konnte? Sie bog in die Graf-Ignatiev-Straße ein, entschlossen, es zu tun. Sie fühlte sich gereift, zu Verstand gekommen. Mit seinen in der Nässe verschwommenen Lichtern war das Café gegenüber dem Programmkino ein ideales Motiv für surrealistische Maler. Der Pavillon mit den belegten Broten, die weißen Stühle und die zierlichen Cafétische schienen derart aufgeweicht, dass sie im nächsten Moment mit den Regenbächen fortgespült werden und im nächsten Kanal verschwinden konnten.
    Vor dem Denkmal des letzten christlichen Patriarchen im Mittelalter vor dem Beginn der Osmanenherrschaft in Bulgarien stand Evtimov, schlicht und in seinen schwarzen Regenmantel gehüllt, aber ohne Schirm. Mitleid überkam sie. Warum hatte er denn keinen Schirm dabei? Sie überquerte die Ampel auf Rot, dann ließ sie ihn näher kommen. Die Straße war leer. Er lächelte ihr zu mit einer angedeuteten Verbeugung, die ihr wehtat.
    Â»Gehen wir in ein Restaurant?«
    Â»Da lauert uns doch nur deine Frau auf, egal in welchem, und ich will nicht, dass sie Lunte riecht.« Sie hatte keine Kraft, ihm in die Augen zu schauen. »Wir werden zusammen sein, mein Lieber, aber nur, wenn du versprichst, dass es das letzte Mal ist.« Er schwieg eisern. »Gut, dann … Warte hier eine Minute, ich komme gleich wieder.«
    Sie rannte auf den bekannten Eingang zu, wie schon so viele Male. Vom Keller her roch es nach Rost und Schimmel. Sie ging durch den Gang hinaus in den quadratischen Hof und überquerte ihn an der Seite mit den Mülltonnen. Auf einer von ihnen duckte sich eine Katze mit leuchtenden Augen. Und schon war sie auf der anderen Seite und trat hinaus auf den Tolbuchin-Boulevard, der ihr blendend hell erleuchtet vorkam. Dann drehte sie sich um. In der Ferne stand, vom feinen Regen durchgestrichen, der wartende Evtimov. Er war geradezu ungerecht einsam, sah aus wie einer, der von einem leichten Mädchen, irgendeiner Bordsteinschwalbe, übers Ohr gehauen worden war. Dessislava eilte, nach Hause zu kommen, denn etwas Warmes rann ihr über die Wangen.
18
    Nach den kalten Dauerregen badete der August endlich in Sonne, doch nun machte die abendliche Schwüle den Sofiotern zu schaffen. Es roch nach verbranntem Benzin, das Grün vergilbte, nur die Frauen wurden schöner. Ihre Spaziergänge mit Simeon im Park wurden immer länger. Er machte

Weitere Kostenlose Bücher