Seelenasche
wären sie in eine verstaubte Braunglasflasche gefallen, eine leere Bierflasche. Simeon blinzelte, seine Augen füllten sich langsam mit Angst.
»Ich versteh dich nicht, Dess ⦠Ich hab mein Versprechen doch gehalten und bis jetzt niemandem gesagt, dass wir verheiratet sind!«
Sie drückte sich an ihn, stieg auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Ihre Nähe war kurz und intensiv wie eine traumatische Erinnerung.
17
Die Strickerei rief ihr die Vorstellung einer gewaltigen, alles verbindenden Stille wieder ins Bewusstsein. Manchmal kam es ihr so vor, als stricke sie ihre Gedanken zu Maschen, die sich wiederum in etwas Flauschiges und Weiches verwandelten, das Wärme ausstrahlte. Dazu trug auch das herrlich unregelmäÃige Naturweià der Wolle bei. Sie träumte davon, den fertigen Pullover Jordan zu schenken, aber wenn die Wolle nicht reichte, würde sie damit halt ihren Ehemann beglücken.
Morgens, mittags und abends rief sie mit der Aufdringlichkeit eines niederen Beamten Evtimov an. Er war beharrlich und sanft; sie hörte missgestimmt, aber nachgiebig zu. Seit zwei Wochen lief im Theater 199 seine Inszenierung eines Kammertheaterstücks. Im Unterschied zu den »normalen« Vertretern der künstlerischen Zunft jammerte er nicht und beklagte sich auch nicht darüber, dass niemand ihn verstünde. Er war eher unzufrieden mit sich selbst, denn die Aufführung wurde als langweilig empfunden, traf anscheinend nicht den Nerv des Stückes und habe keinen inneren Rhythmus. Zu allem Ãberfluss lebe die Hauptdarstellerin auch noch in Scheidung, meinte Evtimov â kurz: ob sie, Dessislava, nicht mal zu einer Probe kommen könne. Als sie absagte, fing er nicht an zu bitten und zu betteln, sondern tat, als hätte er einen Preis bekommen. So gelang es ihm, ihr wieder Schuldgefühle einzutrichtern und gleich mit Inhalt zu versehen.
Eine bleierne Müdigkeit und seelische Trägheit überkamen sie. Oh, wie wohlbekannt waren die ihr! Seit ihrer Kindheit, seit jenem Ereignis im Russischen Klub, als sie sich, bekleckert vom Blut ihrer ersten Menstruation, weigerte zuzugeben, dass sie gröÃer, dass sie zur Frau geworden war. Damals hatte sie sich eingeredet, sie sei halt schmutzig. Als ihre Mutter später erfuhr, dass der Monatszyklus bei Dessislava eingesetzt hatte, erschrak sie zunächst, um schlieÃlich ohne anzuklopfen in ihr Zimmer zu stürzen, so als wolle sie ihre Tochter bei etwas Hässlichem oder Unanständigem ertappen. Die Schuldgefühle der Kinder kommen den Erwachsenen meist sehr zupass, weil diese ihre eigenen Schwächen und Laster in milderem Licht erscheinen lassen. Immer wenn sie klug und erfindungsreich war, empfanden die Erwachsenen sie als nervtötend; wenn sie sich aber kindisch und hilflos gab, waren alle voller Mitgefühl. Sie hassten ihre Fragen, verfielen aber in Rührung, wenn sie sich schämte. Dessislava hoffte, sich durch ihre Lügen dieser sanften Dressur widersetzen zu können, aber sie erschreckte die GroÃen nur. Sie log naiv, aber höchst treffsicher und wahreitsgetreu, denn sie dachte sich keine unglaublichen Geschichten mehr aus, sondern baute ihre Lügen aus Bestandteilen zusammen, die real existierten. Wer imstande war zu sagen, ob und wann sie eigentlich log, der sollte den ersten Stein werfen!
Als ihre GroÃmutter starb und aus diesem Anlass wieder einmal all ihre nahen Verwandten zusammenkamen, weinte sie nicht. Es waren ja nun alle beisammen, und das war es doch, was Jonka immer gewollt hatte. Sie versammelte sie um ihren Sarg, der klein war wie der eines Kindes, und Dessislava hatte das Gefühl, dass da an diesem sonnigen Tag gar niemand von ihnen ging, sondern einfach hundert Lebensjahre begraben wurden. Einhundert lastende und unverzichtbare, aber vergessene Jahre, vergessen nicht nur aus Vergesslichkeit, sondern überrollt vom »neuen Leben«, an die Seite geschubst vom Drang nach Modernsein, zugeschüttet von der Gier, die strahlende Zukunft zu erbauen â und so gleich doppelt begraben.
Das also war es, wobei Evtimov sie in seiner Wohnung ertappt hatte: Sie war weit in den Zwanzigern und dabei unanständig klein gewesen. Ihre vollkommene Unschuld, das dunkle Blut, die auf seinem weiÃen Sofa verschmierte Jungfräulichkeit, suggerierte die Vorstellung ihrer kindlichen Schande. Ja, wenn es ihm gelang, dieses Auseinanderklaffen zwischen Infantilität und
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