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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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eingetreten ist. Aber zur Sache: Warum sollten wir uns für einen ewigen Hamlet interessieren, wenn wir ihn nicht im Hier und Jetzt verankern?«
    Dessislava nippte an ihrem Kaffee und zündete sich ungestört die nächste Zigarette an – der Brandschutzfachmann des Theaters war seit einer Woche wegen Hongkong-Grippe krankgeschrieben. Dieser östliche Grippe-Virus, der die Leute für längere Zeit ans Bett fesselte, war ihr Freund. Sie wollte die Ketten der Zeit sprengen, dem Sujet seine Naivität und historische Patina nehmen und die Handlung in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verlegen, auf diesen schmuddeligen Fleck da namens Bühne, auf dem sich ein Alkoholiker in spe und eine ausgehungerte Hofdame bewegten. Ich hätte ihr besser zwei Teilchen gekauft, sagte sich Dessislava, und ihm hätte ich einen kleinen Wodka spendieren sollen. Das hätte ihre Lebensgeister geweckt und ihr Gefühl für das Gegenwärtige. Es war überhaupt ein Fehler, Studenten aus dem letzten Studienjahr zu nehmen; die glaubten schon, sie seien genial und ihnen gehöre die Welt! Aber mit der Genialität war es wie mit der Vollkommenheit: Sie hatte keine Form. Aber sie wiederholte sich. Na, immerhin war – auch das zitierte Zaubermeister Sotirov gern – die Wiederholung die Mutter allen Lernerfolgs.
    Simeon, den alle nur Sim nannten, kam aus Prowadia mit seinem kleinen Pappkoffer und seinem großen Traum vom Glanz der Bühne. Er hatte die Sofioter Cafés abgeklappert, hatte in Vorlesungen über Ästhetik und Kunstgeschichte hineingeschnuppert und war Sotirovs erklärter Liebling. Was interessierte ihn also Dessislavas Regiearbeit zum Jahrgangsabschluss? Er hatte schon das Versprechen in der Tasche, im dritten Teil des Kriminalfilms Frage ohne Antwort mitspielen zu dürfen. Frage ohne Antwort wurde zur besten Sendezeit im Ersten Bulgarischen Fernsehen ausgestrahlt. Halb Bulgarien würde zusehen, wenn Sim zwei schallende Ohrfeigen bekam, weil er versucht hatte, eine Apotheke auszurauben, genauer gesagt, einige Ampullen Morphium zu stehlen. Er war der Böse, der Widerwärtige und Gefallene, der, den die Gesellschaft heilen würde. Die sozialistische Gesellschaft konnte alles und jeden heilen, vor allem das Individuum – von seiner Einmaligkeit! Sie machte alle einigermaßen gleich, und wenigstens scheinbar bereit, gesichtslos der Allgemeinheit zu dienen, der Gesellschaft nützlich zu sein, wenn schon nicht mit Können und produktiven Ideen, so doch immerhin mit Konformität.
    Wozu brauchte Sim also diesen Hamlet? Zumal ihm gewiss nicht klar war, dass er im schlichten Bühnenraum der Schauspielakademie die Chance hatte, die Größe einer vergangenen Epoche in die dumpfe Ödnis und gedankenlose Langeweile der Gegenwart zu versetzen und damit Hamlet und Ophelia zu Opfern und zugleich Henkern der Vollkommenheit zu machen. Und weiter: Wie sollte man ihm erklären, dass ähnlich einer Religion dieses unglaubliche Theaterstück Erkenntnis für jede Epoche enthielt, für jede denkbare Vergangenheit und Zukunft der Menschheit insgesamt und jedes Einzelnen? Dieser Hamlet aus dem sechzehnten Jahrhundert war erwiesenermaßen tot. Nicht der Sozialismus, der Tod war der große Gleichmacher, denn sterben mussten alle, selbst der Totengräber im Stück. Wenn aber der Tod die einzig denkbare Gleichheit unter den Menschen darstellte, so war er das Maß jeder Sittlichkeit, ja, ihr höchster Richtwert.
    Hamlet ist verwirrt und entzweit. Er ist weder so unmenschlich, dem Mörder seines Vaters einfach zu verzeihen, noch so skrupellos, kaltblütig Rache zu üben. Seine Tatenlosigkeit verwandelt sich vom individuellen Verhalten zum treibenden Motiv der Dramenhandlung. Der Prinz wird Opfer seiner peinigenden Unentschlossenheit und stirbt; auf gewisse – übermenschliche – Weise aber überlebt er das Ende des Stückes, da er extrem anders ist als die anderen, und was ist das Leben anderes als genau dies: Streben nach Einzigartigkeit durch Anderssein. Dieses Anderssein des Einzelnen ist eine Form der Unbeugsamkeit, der Revolte, und daher ebenfalls eine Äußerung der Moral. In dieser Ambiguität liegt das Geheimnis Hamlets. Er ist unendlich, denn er hat in der Vergangenheit gelebt und ist möglich auch in der Zukunft; real jedoch, allgegenwärtig, ist er einzig und allein im Hier und Jetzt!
    â€¦ Kalter Kaffee,

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