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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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das bloß angefangen? Diese verfluchte Frage stellte er sich jedes Mal, wenn in seiner Vorstellung Grigorovs leeres Gesicht auftauchte, ein Schatten im grell durchs Fenster hereinscheinenden Licht. Wann, zum Teufel nochmal? Erinnerungen überkamen ihn, Erinnerungen aller Art, meist intime, manchmal gar beschämende, doch sie alle wurden fortgeweht wie trockene Blätter von dieser einen, überdeutlichen, entscheidenden Erinnerung, die sich ihm glühend in sein Bewusstsein eingeprägt hatte.
    Es war in dem Sommer gewesen, bevor er eingeschult wurde. Sie waren in Pomorie am Schwarzen Meer gewesen, dessen saphirblaues Glitzern zum Horizont hin verblasste. Das Städtchen roch nach gebratenem Fisch und verfaulten Früchten, nach Algen, Jod und Provinz-Ewigkeit. Die Vormittage verbrachte seine Familie am Strand, nachmittags gingen Ljuba, seine Mutter, und seine Tante Emilia im Sanatorium zu den Heilschlamm-Anwendungen.
    Emilia Weltscheva stand damals im Zenit ihres Ruhms als Schauspielerin; die Menschen folgten ihr mit Blicken voller Staunen und Bewunderung, hielten sie auf der Straße an und baten um ein Autogramm oder darum, sich mit ihr fotografieren lassen zu dürfen. Sie hatte ihre Tochter Dessislava dabei, ein verwöhntes, querköpfiges Mädchen, das drei Jahre jünger war als er und ihm ständig im Weg stand, wenn er am Ufer eine Sandburg bauen wollte.
    Es geschah am Tag vor der Heimreise, kam völlig unerwartet und war erfüllt von einem mystischen Licht, in dem man verschmoren konnte. Als es passierte, vergnügte Christo sich gerade damit, mit einem Stöckchen einen Mistkäfer in eine Streichholzschachtel zu befördern, als auf einmal ein Wind aufkam, der genau auf die ihm zugewandte Seite des Sanatoriums wehte. Mit einem Stoß öffnete er das Türchen der Kabine ihm gegenüber, und da – stand Emilia, seine Tante, nackt, nur von Heilschlamm bedeckt, als habe der Schöpfer sie gerade aus Erde geformt. Beschienen von der Sonne, glich sie einer wunderbaren Statue. Sie hatte sich gerade unter die Dusche gestellt, und eine langsame und süße Metamorphose begann: Das Wasser entkleidete, enthüllte sie und gab ihr ihre Lebendigkeit zurück. Zuerst traten ihre weizenblonden Haare zutage und flossen über ihre Schultern; dann folgten ihre wohlgeformten Schultern und schließlich die Schenkel, die an ein Trinkgefäß gemahnten. Sie wandte sich um, dabei gerieten ihre vollen, elastisch und leicht hängenden Brüste ins Schaukeln, deren Warzen die Farbe von Kaffeebohnen hatten. Sein Blick glitt über ihren sonnengebräunten Bauch und verhielt bei der Weiße jenes Dreiecks, das die Bikinihose hinterlassen hatte – Ahnung und Fortsetzung von etwas Geheimem, Verbotenem, nun aber vom Licht Herbeigerufenem, geschmückt von einem messingblonden Kranz, der Schmerz in seinen Lenden hervorrief. Ein Ächzen entrang sich ihm. Christo stand wie gebannt da, selbstvergessen und erschütternd allein, mit zusammengekniffenen Augen und offenem Mund. Er war Zeuge eines Wunders gewesen! Er hatte der Metamorphose einer Göttin beigewohnt, die – nach dem Abwaschen des Statuenscheins der Ewigkeit – zu einer sterblichen Frau geworden war.
    Erst in diesem Moment bemerkte Emilia die offene Kabinentür. Ihr Ausruf des Erschreckens klang intim, wie nur für ihn bestimmt. Instinktiv bedeckte sie ihre Blöße mit den Armen, half ihm dadurch aber nur, den Rest auch noch zu sehen. Als sie zu sich kam, lächelte sie, murmelte: »Gut, dass keine Männer da sind!«, und schlug die Tür zu. Vielleicht verriegelte sie dabei auch sein Herz.
    Christo wusste nicht, dass er verliebt war, also dachte er in der folgenden Nacht, er sei krank. Er warf sich herum, glühte, als habe er Fieber, und konnte bis zum Morgen vor Aufregung nicht einschlafen. In dem, was er erlebt hatte, war nichts Erotisches, nichts, was auch nur entfernt an Erregung und Fleischeslust erinnerte; was er gesehen hatte, war vielmehr, wie etwas Irdisches und etwas Geistiges, eine Frau und eine Göttin, sich in Metamorphose begegnet waren. Ihr sich enthüllender Körper, ihr Sichumkleiden in Sonnenlicht und Wasser hatten sich tief in sein Gedächtnis, ja sein ganzes unschuldiges, unerfahrenes Jungenleben eingebrannt. Er träumte dieses Bild fortan auch mit offenen Augen. Es überraschte ihn, wenn er mit anderen Jungs auf dem Hof Ball spielte, während er ein

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