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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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eisiger Saal, Hongkong-Grippe … Na, dachte Dessislava, die werde ich so was von durchrütteln, ich darf nur nicht schreien, denn wenn ich losbrülle, hören sie nicht. Ich hab mich voll unter Kontrolle, ich bin emotional gegen alles gewappnet, ich bin ruhig wie … wie Shakespeare höchstpersönlich …
    Â»Jetzt hör mal zu, du Kalb, du stehst auf der Bühne wie der Prinz der Kapverdischen Inseln! Hamlet ist aber Europäer, und zwar ein zivilisierter, nachdenklicher, und dabei weitblickend und weise.«
    Â»Wenn ich Maja nur nahe komme, krieg ich ’en Ständer«, grinste Simeon.
    Â»Schön für dich, aber die Wahrhaftigkeit deines Astralleibes passt mir nicht. Zu unser aller großem Bedauern ist Hamlet nämlich kein manischer Sexknubbel. Ich sag ja nicht, er ist impotent, aber niedere Leidenschaften interessieren ihn nicht. Er ist zerrissen und vollkommen unschuldig, ist aber gleichzeitig belastet, weil er eine Bringschuld hat. Du verstehst mich vielleicht besser, wenn ich mich für Dumme ausdrücke: Er fühlt sich wie einer, der einen schrecklichen Kater hat.«
    Sie war drauf und dran, den Krempel hinzuschmeißen oder in Tränen auszubrechen, so ging ihr das alles auf die Nerven. Sie goss sich den kalten Kaffee in den Rachen, ging um die Reihe knarrender Stühle herum, justierte ihr Lächeln, so als verstärke sie unsichtbar ihr Make-up, und stieg auf die Bühne. Kaum hatte sie diesen flüchtigen Geruch nach gesteigertem Leben, Bühnendeko und Betrug betreten, setzte der Zustrom an Intuition und beschwörender Magie wieder ein. Sie zog an ihrer Zigarette, schaute in das blinde Geheimnis des leeren Zuschauerraums. Das Halbdunkel war nicht bedrohlich, sondern anziehend, so als erwarte sie dort jemand. Und plötzlich, mit der Stärke des ersten, des himmlischen Lichts packte sie die Sehnsucht, zu lieben. Sie wollte besinnungslos verliebt sein, wie verrückt in jemanden verliebt, in ein verzärteltes Haustier, notfalls sogar in einen Menschen oder gar einen Schauspieler. Das Gefühl war so stark, dass sie kurz taumelte. In solchen Momenten der wahren Empfindung, in denen sie einer Ohnmacht nahe war, nahm sie immer Zuflucht zu einer Lüge. Plötzlich fühlte sie sich verlassen, weil niemand da war, den sie belügen konnte, außer sich selbst oder Shakespeare. Die beiden Elendsgestalten hatten sich auf die unbequemen Pritschen fallen lassen, sahen aus wie seltene und teure, aber verwelkte Blumen.
    Â»Also gut, ich will versuchen, es Schritt für Schritt zu erklären, wie sich der uns allen teure Theo Sotirov auszudrücken beliebt«, begann sie mit leiser Stimme und erzielte damit tatsächlich Aufmerksamkeit. »Wir sind mit den Gedanken immer entweder in der Vergangenheit oder der Zukunft, darum – so absurd es sich auch anhört – ereignen sich beide, Vergangenheit und Zukunft, nur in der Gegenwart. Hamlet ist aber der Gegenwart beraubt; er benimmt sich wie ein Geisteskranker, weil er nur mit der Vergangenheit Kontakt hält, in der die Erbschuld der fremden Sünde liegt, und mit der Zukunft, der Anstrengung, sich nicht mit Gewalt an den anderen zu rächen, sondern sich selbst zu zerstören. Zugleich steckt Hamlet in der ganzen Banalität der Gegenwart mit seiner inzestuösen Mutter, seinen ungetreuen Freunden und Ophelia. Ophelia ist selbst von Schuld gezeichnet, ohne dass es ihr bewusst wäre. Ophelia kann ihm nicht helfen, weil sie ihn nicht versteht. Sie liebt Hamlet in der Gegenwart – er lebt in Vergangenheit und Zukunft. Sie verfehlen einander tragisch, aber – nota bene – nicht in ihren Gefühlen und Gedanken, sondern in der Zeit!«
    Bevor sie ihre Zigarette austrat, ließ Dessislava Simeon daran ziehen. Eine Kippe kann die Wärme und den Zauber eines Wodkas nicht ersetzen, aber immerhin ist es eine kleine Aufmerksamkeit. Sie schaute ihm eindringlich in die Augen – schön und nicht-sehend, stand in ihnen Ahnungslosigkeit und der Triumph kommender Berühmtheit. Wie gerne würde sie jemanden lieben, sogar diese Lusche. Simeon hatte wirklich Talent und Ausstrahlung, aber Dessislava war nicht imstande, sich in einen Zentaur zu verlieben. Schön, schamlos und halb Mensch, halb Hengst.
    Â»Und nun das Wichtigste«, fuhr sie betrübt fort, »es interessiert mich nicht, wo und wann Hamlet gelebt hat. Im Moment hält sich Hamlet in Sofia auf, im Sofia

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