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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Schnee ist kalt und unschuldig weiß.«
    Â»Erwarte dich heute Abend bei Bobby«, verbeugte sich Simeon von der Bühne vor ihr.
    Alle an der Schauspielakademie glaubten, dass er und Dessislava ein Pärchen waren. Sim war überzeugt, dass sie ihm gehörte wie ein Buchklassiker im Regal, den man irgendwann ganz sicher einmal lesen wird, oder wie eine noch unberührte Flasche edlen Alkohols, die man sich für einen besonderen Anlass aufspart. Er brauchte ein bisschen Zeit, bis der Rausch von einigen seiner Kommilitoninnen verflogen war, die vergleichsweise nach billigen Tropfen dufteten. Die ganze Fakultät meinte zu wissen, dass Dessislava in den unwiderstehlichen Sim verliebt war, nur sie selbst wusste das nicht.
5
    Am späten Nachmittag war das Ungarische Restaurant kaum halbvoll. Sie wählten einen Tisch in der Ecke des Séparées, auf dessen weißer Decke ein rostfarbener Fleck prangte, vermutlich von einem Kotelett. Schrecklich, dachte Dessislava, ich kann noch nicht mal einen Fleck übersehen. Das wächst sich schon zu einem richtigen Tick aus.
    Â»Eifersucht ist ein Laster«, erklärte Evtimov finster, »denn sie befreit uns von der Sünde. Da sie sozusagen schon die vorweggenommene Strafe ist, müssen wir nun auch sündigen . Trotzdem: Ständige Untreue wird einem über wie ein mehrfach aufgewärmtes Essen. Ich habe immer von einer dauerhaften Beziehung geträumt. Nicht dass ich mich verlieben wollte, Gott bewahre! Nein, so würde einfach die Untreue wieder das gewisse Etwas bekommen. – Iss, sonst wird dein Gulasch kalt. Wenn du kein Gulasch magst, bestell dir doch Filet. Was magst du eigentlich?«
    Â»Hamlet«, erwiderte Dessislava. »Ich mag Hamlet! Außerdem mochte ich auch meine Großmutter, aber die ist schon lange tot, Friede ihrer Asche. Sie war für mich die letzte Verbindung zum Mythologischen, und ohne Mythen ist das Leben leer wie das Theater nach dem Schlussapplaus. Wie man sieht, liebe ich also zwei Tote; mag sich pervers anhören, ist aber so.«
    Â»Das heißt, Filet rettet die Lage auch nicht?«
    Â»Nein«, bestätigte Dessislava. »Außerdem bin ich in einer halben Stunde verabredet.«
    Â»Und ich bin gut im Märchenerzählen, nicht nur Rapunzel , auch den gestiefelten Kater kann ich …«
    Â»Märchen sind naiv. Sie wenden sich an alle und haben immer ein Happyend. Das Mythologische aber fesselt mich, weil es mich persönlich angeht. Jonas zum Beispiel, der ist wirklich aus dem Wal wieder rausgekommen. Was ich sagen will: Jeder Mensch wird zweimal geboren.«
    Â»Und wann hattest du das Vergnügen der zweiten Geburt?«, stichelte Evtimov.
    Â»Vor elf Jahren«, antwortete Dessislava ganz ernst, »als Oma starb. Das war schlimm. Es regnete. Gott sei Dank, denn der Regen half den Leuten, bei der Beerdigung wenigstens ein bisschen traurig auszusehen. Ja, der eine oder andere hat sogar geweint. Damals hasste ich alle meine Verwandten, auch wenn Oma sie über alles stellte. Sie glaubte, der Sinn ihres Lebens bestehe darin, sie zusammenzuhalten, sie untereinander in Kontakt zu bringen. Das kannst du von mir aus Sippenkomplex nennen, ich nenne es leidenschaftlichen Traditionalismus. Wie auch immer – als sie starb, ließ Großmutter uns los und für immer zurück!«
    Â»Und du? Hast du Krokodils- oder echte Tränen geweint?«
    Â»Quatsch. ›Warum trauert ihr um ein Stück abgelegte Kleidung?‹ Ist nicht von mir, ist von Saint-Exupéry.«
    Â»Teufel auch, bist du kompliziert. Ich weiß nicht, ob du dich nur verstellst, aber du schaffst es, einen auf exzentrisch zu machen.«
    Â»Oma meinte, ich sei ein völlig normales Kind. Das einzig Ungewöhnliche sei, dass ich ständig lügen würde.«
    Â»Das tut doch jeder.«
    Â»Da gibt es schon einen Unterschied, Genosse Evtimov. Wenn du einmal lügst, dann willst du dich nur rausreden. Aber ständiges Lügen, das ist eine Form, die Wahrheit zu sagen.«
    Evtimov überging ihre letzte Behauptung mit Schweigen. Er war beschäftigt, säbelte an seinem blutigen Steak herum, denn das Fleisch war zäh, sein Messer stumpf, und die dadurch erzwungene Heftigkeit seines Tuns wirkte barbarisch. Das hereinfallende Licht wiederum ließ seine Schläfen silbern aufblitzen und gab ihm das Aussehen eines Adligen, der gar nicht hungrig ist, aber aus Rücksicht auf die guten Manieren

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