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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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wanderte zu der herausgeschraubten Klinke an der Tür, und sie meinte: »Und Ihr Vater?«
    Bei dieser Frage verwandelte sich Gerlachs Gesicht auf wunderbare Weise. Er lächelte, und seine groben, irgendwie nicht zueinander passenden Gesichtszüge wurden weicher. »Mein Vater war Handelsvertreter.« Er sprach das Wort so behutsam und vorsichtig aus, wie er zuvor mit seiner Hand den Umgang mit seinem Vogel demonstriert hatte. »Er war
selten zu Hause, aber er hat mir immer schöne Dinge mitgebracht. Spielsachen. Eine Eisenbahn.« Er warf einen kurzen, fast schüchternen Blick auf die zugedeckte Eisenbahn auf dem Tisch. »Mein Vater hat mit mir gespielt. Er war lieb.«
    Lieb. Nicht gut. Also war wohl die »gute« Mutter diejenige, die ihren Sohn eingesperrt hatte.
    »Sie wurden also wegen Ihrer Vieren im Zwischenzeugnis bestraft?«, kehrte sie zu ihrem anfänglichen Thema zurück, bemüht, das Gespräch nicht versiegen zu lassen.
    Gerlach nickte. »Ja. Ich war böse. Ich habe meine Mutter enttäuscht. Sie hat mir vertraut und mich auf die Realschule geschickt, und ich habe ihr Vertrauen enttäuscht.«
    Clara sagte nichts. Ihr wurde nachträglich noch heiß vor Wut bei dem Gedanken an diese unbekannte Mutter.
    Und Gerlach, jetzt ganz in Gedanken versunken, fuhr fort: »Sie musste mich bestrafen. Sie meinte, Hansi wäre schuld an meinen schlechten Noten. Ich hätte mich zu viel mit ihm beschäftigt und darüber meine Hausaufgaben vernachlässigt.« Gerlachs Blick wanderte wieder zu der Stelle am Fenster, wo der Käfig gehangen hatte. »Er musste weg.«
    »Ihre Mutter hat den Vogel weggegeben, weil Sie drei Vieren im Zwischenzeugnis hatten?«, fragte Clara ungläubig nach. »Das war die Strafe?«
    Gerlach schüttelte den Kopf. »Sie hat ihn nicht weggegeben. Ich selber musste es tun.«
    »Sie mussten also Ihren Vogel wegbringen … ins Tierheim? Oder zu anderen Leuten?«, fragte Clara beklommen nach und versuchte sich vorzustellen, was das für den Elfjährigen bedeutet haben musste.
    »Nicht zu anderen Leuten! Ich musste ihn frei lassen.« Er deutete mit dem Kopf ruckartig nach hinten in Richtung Küche. »Auf dem Balkon habe ich ihn freigelassen.«

    Clara schluckte. »Aber es war Winter. Zwischenzeugnisse gibt es im Februar, da konnte er ja nicht überleben.«
    Gerlach nickte. Seine Stimme war jetzt wieder ganz unbeteiligt. »Natürlich nicht. Er ist auch nicht weggeflogen. Es war viel zu kalt zum Fliegen. Er saß auf der Brüstung, den ganzen Tag. Aber ich durfte ihn nicht mehr hereinlassen. Das war meine Strafe. Es war meine Schuld, dass er leiden musste. Weil ich in der Schule nicht genügend aufgepasst habe. Meine Schuld. Deshalb musste er dort draußen sitzen. Am nächsten Morgen war er tot. Er lag am Boden auf dem Balkon. Ganz steif. Wie tiefgefroren.«
    Clara starrte ihn entsetzt an. Was für eine Grausamkeit einem kleinen Jungen gegenüber. Und unvermittelt drängte sich ihr ein anderes Bild auf, das Bild einer Frauenleiche im Schnee, steifgefroren …
    Als ob Gerlach das Bild in Claras Kopf gesehen hätte, schaute er sie plötzlich an und sagte: »Es war meine Schuld, dass sie gestorben ist. Ich habe sie getötet.«
    »Gerlinde Ostmann«, brachte Clara mühsam heraus und räusperte sich. »Sie meinen Gerlinde Ostmann?«
    »Wen denn sonst?«, fuhr er sie an.
    Clara beeilte sich zu nicken. Dann sagte sie: »Aber sie wäre sowieso gestorben.«
    »Was?« Gerlach zwinkerte heftig.
    »Sie haben Gerlinde Ostmann nicht getötet. Sie hatte einen Herzinfarkt.«
    »Sie lügen!«, sagte er leise. Seine Augen waren starr wie Glasmurmeln unter Wasser.
    »Nein.« Clara versteifte sich, versuchte, sich gegen einen Angriff zu wappnen. »Wussten Sie das nicht? Sie ist an einem tödlichen Herzinfarkt gestorben. Niemand hätte sie mehr retten können.«

    »SIE LÜGEN!«
    Clara wich zurück. Sie konnte seinen Atem riechen, er roch scharf und stechend wie ein Desinfektionsmittel beim Zahnarzt. »Ich lüge nicht. Warum sollte ich Sie anlügen?« Sie versuchte, noch ein Stück weiter zurückzuweichen, tastete mit den Händen nach der Kante des Schranks und ließ ihn gleichzeitig nicht aus den Augen.
    Doch er bewegte sich nicht, sondern starrte sie nur an. Eigentlich sah er nicht sie an, sondern durch sie hindurch. Dann senkte er langsam den Kopf, sah auf seine Hände und begann auf eine qualvolle Art und Weise zu husten. Das Husten ging in Würgen über, und ohne ein Wort drehte er sich um und flüchtete aus dem Zimmer.
    Clara konnte

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