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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube nicht. Man sagt, Wellensittiche gewöhnen sich so sehr an den Menschen, dass sie ihre Artgenossen nicht vermissen.« Tatsächlich hatte sie keine Ahnung vom Seelenleben eines Wellensittichs, wusste nur, dass sie normalerweise in Schwärmen zusammenlebten, was nicht unbedingt für uneingeschränkte Glückseligkeit in Einzelhaft sprach, doch es klang tröstlich, und es verfehlte nicht seine Wirkung.
    Gerlach atmete spürbar erleichtert aus. »Das habe ich mir auch immer gedacht. Er war ganz zahm, ließ sich anfassen.« Er hielt behutsam eine Hand in die Höhe. »So habe ich immer gemacht, und er ist sofort angeflogen gekommen.«
    Clara verfolgte seine Bewegung, musterte seine Hand, seine fast zärtliche Geste und musste sich gewaltsam in Erinnerung rufen, dass es die gleichen Hände gewesen waren, die Irmgard Gruber erwürgt hatten.
    »Es muss schlimm für Sie gewesen sein, als er gestorben ist?« Clara hielt die Luft an, als Gerlach mit einem Ruck die Hand sinken ließ. Sie hatte sich auf gefährliches Terrain gewagt, doch irgendetwas in ihr hatte sie dazu gebracht, genau diese Frage zu stellen.
    Er antwortete nicht. Doch Clara konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Er presste die Lippen zusammen, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Da war etwas. Ein wunder Punkt. Clara hatte einen Nerv getroffen. Hastig plapperte sie weiter. »Ich jedenfalls war völlig untröstlich, als Müller und Meier gestorben sind. Meier zuerst und dann, wenige Tage danach, Müller, wohl aus … aus Trauer. Ich habe tagelang
geweint, und es gab ein großes Begräbnis im Garten meiner Großmutter …«
    »Quatsch!«, fuhr Gerlach dazwischen. »Es sind nur Tiere, keine Menschen. Da weint man nicht.«
    Es klang merkwürdig abgehackt, wie auswendig gelernt.
    Clara schüttelte den Kopf. »Ich schon. Ich habe furchtbar geweint. Aber vielleicht waren Sie ja schon älter, ich war neun oder zehn, und außerdem sind Jungs vielleicht anders.«
    »Ich war elf. Und ich habe nicht geweint. Es war nur ein Vogel. Nichts weiter. Wir haben ihn weggeworfen.«
    Clara sah ihn an. »Und trotzdem haben sie die Katze vor dem Verhungern gerettet. Obwohl es nur eine Katze war.«
    Gerlach wich ihrem Blick aus. »Aber Hansi habe ich nicht gerettet«, sagte er schließlich, und seine Stimme war leise, fast tonlos. Keine Emotion lag darin.
    »Hätten Sie ihn denn retten können?«, wollte Clara wissen.
    Gerlachs Blick wanderte unruhig durch das Zimmer. Clara hatte den Eindruck, als sähe er direkt durch sie hindurch in die Vergangenheit.
    »Ich durfte nicht«, sagte er schließlich. »Ich war böse. Hatte Strafe verdient.«
    »Was haben Sie getan?«, fragte Clara behutsam und vergaß einen Augenblick ihre Angst vor diesem Mann.
    »Ich … hatte schlechte Zensuren.«
    Gerlach sah auf seine Hände, als schämte er sich noch immer dafür. Er trug jetzt keine Handschuhe, und Clara sah die fast nicht vorhandenen Fingernägel und die rote, gereizte Haut und dachte an Sigi und seine gute Beobachtungsgabe. An den Knöcheln waren Gerlachs Hände so wund, dass zwischen den verkrusteten Stellen hier und da das rohe Fleisch zu sehen war.

    »Schlechte Zensuren?« Das schien Clara nicht besonders böse zu sein; wenn sie an Sean mit elf Jahren dachte, war das vielmehr vollkommen normal.
    »Ich durfte auf die Realschule gehen. Meine Mutter hatte es erlaubt, obwohl sie ihre Zweifel hatte, ob ich gut genug war. Aber ich wollte gerne, und so hat sie es mir erlaubt«, fuhr Gerlach mit leiser Stimme fort. »Und dann, im Zwischenzeugnis, hatte ich drei … drei …«, seine Stimme wurde noch leiser. »Drei Vieren.«
    Clara hob die Augenbrauen und konnte sich einen Ausruf der Überraschung nicht verkneifen. »Aber das ist ja noch gar nichts! Mein Sohn hatte zwei Fünfen und eine Vier in seinem ersten Zwischenzeugnis auf dem Gymnasium. Das war ein hartes Stück Arbeit, ihn wenigstens bis zum Jahresende auf drei Vieren zu bringen, das kann ich Ihnen sagen.«
    »Haben Sie ihn verprügelt?«, wollte Gerlach wissen.
    »Aber nein!« Clara wehrte erschrocken ab. »Doch nicht wegen der Noten. Auch sonst nicht, niemals.« Sie dachte nach und räumte dann freimütig ein: »Manchmal war er so unausstehlich, dass ich ihm am liebsten ein paar Ohrfeigen gegeben hätte. Aber ich konnte mich immer beherrschen.«
    Gerlach nickte, offenbar zufrieden. »Das ist gut. Meine Mutter hat mich auch nie geschlagen. Sie war eine gute Mutter.«
    Claras Blick

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