Seelengift
konzentrieren. Richtig. Als sie in der Nacht angekommen waren, waren sie immer geradeaus gegangen. »Immer geradeaus«, flüsterte sie und zeichnete
mit den Fingern die Haustür auf den Boden. Das war wichtig. Wichtig für den Fall, dass ihr die Flucht gelingen sollte. Sie musste sofort in die richtige Richtung laufen. Und wenn die Tür verschlossen war? Sicher war sie das. Clara biss sich auf die Lippen. Sie würde kaum einfach so hinausspazieren können.
Doch Josef Gerlach war ein überaus ordentlicher, ja zwanghaft ordentlicher Mensch. Das war ihr schon in seinem Laden aufgefallen, und auch hier herrschte eine Atmosphäre antiseptischer Reinlichkeit. Kein Stäubchen irgendwo, nicht einmal unter der Tür. Der Boden in der Küche, zumindest der Ausschnitt, den sie hatte sehen können, war spiegelblank. Sicher hatte Josef Gerlach einen besonderen Platz für seine Schlüssel. Und sicher rückte er nicht mehr als notwendig von seinen Gewohnheiten ab. Gewohnheiten brachten Sicherheit, und die brauchte Josef Gerlach. Ganz besonders jetzt, in einer Situation wie dieser, die sein Leben vollkommen durcheinanderbrachte. Sie würde sich beim nächsten Gang auf die Toilette so genau wie möglich umsehen. Vielleicht gab es ein Schlüsselbrett oder einen Schlüsselkasten?
Josef Gerlach tat ihr den Gefallen, erneut auf die Toilette gehen zu dürfen, jedoch nicht. Nur wenige Minuten, nachdem Clara mit ihrer fiktiven Zeichnung fertig geworden war, hörte sie Schritte, die näher kamen. Wie ertappt sprang sie auf und setzte sich auf das Bett. Einen Augenblick war sie wie panisch, felsenfest davon überzeugt, Gerlach werde die unsichtbare Skizze sehen können. Doch dort gab es nichts zu sehen, keine Linien, keine Türen, keine Fluchtwege, nur den blanken Dielenboden.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und Gerlach schob etwas herein, ohne den Raum selbst zu betreten. »Keine Schweinereien mehr, hören Sie?«, schrie er durch den
schmalen Spalt in der Tür, bevor er diese wieder verschloss. Er hatte ihr einen großen, leeren Putzeimer und zwei Rollen Toilettenpapier gebracht, dazu noch eine Plastikflasche Mineralwasser.
»Na prima!« Clara seufzte. Wenigstens sollte sie nicht verdursten. Dann ging das Licht aus. Im ersten Moment erfasste sie Panik. Es war stockfinster. Sie konnte ihre Hand nicht vor Augen sehen. Ihr Herz begann heftiger zu klopfen. »Alles gut«, flüsterte sie sich selbst zur Beruhigung zu. »Er hat das Licht ausgemacht. Es ist wahrscheinlich schon spät. Er geht ins Bett.« Sie drehte sich um und sah zum Fenster: Tatsächlich, kein Lichtstrahl drang durch den schmalen Spalt in dem Holzbrett. Wie spät mochte es sein? Wie lange hatte sie überhaupt geschlafen, nachdem er ihr das Mittel gegeben hatte? Es war Samstagnacht, oder? Es musste Samstagnacht sein. Oder etwa schon Sonntag?
Vorsichtig stand sie auf und tastete sich zur Tür. Sie schob den Eimer und die Flasche beiseite und legte sich wieder auf den Boden, um unter der Tür durchzusehen. In der Küche brannte Licht. Clara konnte Gerlachs Beine sehen. Er stand an der Spüle. Jetzt hörte Clara auch Wasser plätschern. Sie sah ihm zu, wie er hin und her ging, in Hausschuhen aus dunkelblauem Cord und grauen Socken. Es sah alles so harmlos aus. Trügerisch harmlos, wie sie wusste. Sollte sie sich trotzdem bemerkbar machen? Versuchen, mit ihm zu reden? Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Gleich würde er fertig sein, das Licht in der Küche ausmachen, und dann säße sie die ganze Nacht hier im Dunkeln, ohne zu wissen, was der Morgen bringen würde. Sie stand hastig auf, atmete tief ein und klopfte dann gegen die Tür.
Nichts geschah. Stille draußen.
Sie klopfte noch einmal. Heftiger dieses Mal.
»LASSEN SIE MICH IN RUHE!«
Er schrie, nein, brüllte so laut, dass Clara erschrocken zurückfuhr. Josef Gerlach musste direkt vor der Tür stehen.
»RUHE! Lassen Sie mich in Frieden!«, heulte er und schien der Panik näher zu sein als sie selbst.
Sie schloss die Augen einen Augenblick lang, dann schlug sie mit beiden Fäusten gegen das Holz und brüllte zurück, so laut sie konnte: »NEIN! Verdammt! Reden Sie mit mir!«
Verblüfftes Schweigen antwortete ihr. Clara spürte, wie sie zitterte, und vom lauten Schreien meldeten sich ihre Kopfschmerzen tobend zurück. Ihr Kopf drohte zu zerspringen. Sie presste ihre Handflächen gegen die Schläfen und keuchte. Blitze zuckten hinter ihren Augen, und ihr wurde wieder schlecht.
»Nur nicht kotzen, Clara Niklas!«,
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