Seelengift
beschwor sie sich. »Bloß nicht. Das darfst du nicht. Das darfst du nicht …« Und mit aller Kraft drängte sie die Übelkeit zurück. Dann wiederholte sie noch einmal, diesmal etwas leiser: »Bitte! Reden Sie mit mir!«
Noch immer herrschte absolute Stille auf der anderen Seite der Tür. Clara konnte nicht einmal sagen, ob er noch da war. Sie legte ihren Kopf an das Holz und lauschte. War das ein Keuchen? Ein leises Atmen oder nur Einbildung? Dann drehte sich der Schlüssel im Schloss, und das Licht ging wieder an. Clara trat einige Schritte zurück und verbarg ihre zitternden, schwitzenden Hände hinter dem Rücken. Eine Waffe!, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn ich nur irgendetwas hätte, das sich als Waffe gebrauchen lässt. Oder wenigstens einen Plan …
Dann stand er in der Tür und starrte sie an. Schwer atmend, als ob er gelaufen wäre. Seine Augen waren von einem blassen, wässrigen Blau, und die Lider waren gerötet und
glänzten feucht. Es sah aus, als ob die Augen in den Augenhöhlen schwämmen. Doch er weinte nicht, wie Clara anfangs geglaubt hatte. Er blickte sie nur unverwandt an, so angestrengt, mit so weit aufgerissenen Augen, dass diese zu tränen begonnen hatten. Er war in Panik. Clara wusste nicht, was beunruhigender war: ein Entführer, der aus Berechnung handelte, überlegt und eiskalt, oder dieser Mann, in heller Panik, kurz davor durchzudrehen. Sie durfte nichts Falsches sagen, keine falsche Bewegung machen, ihn nicht reizen. Doch sie hatte keine Ahnung, was richtig und was falsch war. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was ihn reizen könnte und was beruhigen. Ihr Mund war trocken und fühlte sich an wie aus Pappe, ihre Zunge klebte am Gaumen. Sie räusperte sich, was ihr sofort wieder ihre geschundene Kehle in Erinnerung brachte, und sagte das Erstbeste, was ihr einfiel: »Sie haben die Katze gefüttert, nicht wahr?« Ihre Stimme war nur ein heiseres Krächzen, das Schreien hatte ihre letzte Kraft gekostet.
»Wie?« Er zuckte zusammen und zwinkerte heftig. Diese Frage hatte ihn aus dem Konzept gebracht.
»Die Katze. Gerlinde Ostmanns Katze. Sie haben ihr das Leben gerettet.«
»Das Leben gerettet …«, wiederholte er wie ein Schlafwandler. »Ja. Habe ich das?«
Clara nickte. »Das war gut. Ich habe auch einen Hund, ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass er verdurstet.« Sie dachte an Elise, die nun schon mindestens vierundzwanzig Stunden in ihrer Wohnung war, und ihr Magen zog sich zusammen. Hoffentlich hatten Herr oder Frau Manninger sie bemerkt. Oder Gruber oder Mick - Mick … sie spürte, wie ihre Beine zu zittern begannen, und sie stützte sich hastig mit den Händen am Kleiderschrank ab.
»Eine Dogge«, sagte Gerlach. »Sie haben eine graue Dogge.«
Clara nickte mühsam. »Sie mögen Tiere?«, fragte sie vorsichtig.
Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu, als vermute er eine Fangfrage, doch dann nickte er. »Ich hatte einmal ein Haustier«, sagte er überraschend.
»Eine Katze?«, vermutete Clara, doch Gerlach schüttelte den Kopf. »Einen Wellensittich. Hansi.«
»Wie schön! Konnte er sprechen?« Clara wagte keine Bewegung, aus Angst, ihn zu irritieren. Sie wagte kaum zu atmen.
Gerlachs glasige Augen nahmen einen leicht versonnenen Ausdruck an. »Nein. Aber er konnte meinen Wecker nachmachen. Morgens, wenn ich zur Schule musste, hat er mich geweckt.« Er senkte den Blick, dann fügte er noch - wie zur Rechtfertigung - hinzu: »Der Wecker hat natürlich auch geklingelt, aber da war ich immer schon wach.«
»Stand sein Käfig hier in Ihrem Zimmer?« Clara fühlte sich wie auf einem Tretminenfeld.
Gerlach deutete auf das winzige Fenster. »Dort hing er, und im Sommer auf dem Balkon. Aber nur im Sommer. Wellensittiche brauchen es warm, wissen Sie?«
Clara nickte. »Ich weiß. Meine Oma hatte auch zwei. Einen grünen und einen blauen. Sie hießen Meier und Müller.« Sie lächelte ein wenig, doch Gerlach lächelte nicht mit.
»Komische Namen für Vögel«, sagte er.
»Da haben Sie recht. Meine Großmutter hatte einen etwas seltsamen Humor. Hansi ist da schon passender, nicht wahr?«
Gerlach nickte und sah zu dem vernagelten Fenster hinüber, als hinge der Käfig noch immer dort. »Ich wollte auch
immer einen zweiten, aber meine Mutter hat es nicht erlaubt. Glauben Sie, dass Hansi einsam war?«
Ja, dachte Clara. Mit Sicherheit. Aber das durfte sie nicht sagen. Gerlachs Frage war so drängend gewesen, als quäle sie ihn tatsächlich noch immer. Deshalb
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