Seelengift
Ahnung.«
»Haben Sie nachgeprüft, ob sie übers Internet Bekanntschaften geschlossen haben könnte?«
»Sie hatte nicht einmal einen Computer. Ihre Kollegen haben gemeint, sie sei ein wenig altmodisch gewesen. Es habe
schon großer Überredungskunst bedurft, sie überhaupt dazu zu bringen, bei der Arbeit den Computer zu benutzen. Wenn Sie mich fragen, war das der eigentliche Grund für ihre Kündigung. Zu unflexibel. Dabei hat sie fast zwanzig Jahre in der Firma gearbeitet.« Er schnaubte.
»Mhm.« Claras Gedanken waren schon weitergewandert. Kein Internet also. Die Möglichkeit einer solchen Bekanntschaft hatte sie ohnehin schon fast abgehakt, Gerlinde Ostmann schien so gar nicht der Typ dafür gewesen zu sein. »Hat man eigentlich ihre Geldbörse und ihre Schlüssel später noch gefunden?«, fragte sie unvermittelt.
»Nein. Es wurde auch nichts mit der Kreditkarte abgehoben, obwohl sie einen ziemlich hohen Betrag auf ihrem Konto hatte. Sie hat eine hohe Abfindung bekommen.«
»Ich dachte, man habe sie entlassen, weil die Firma in finanziellen Schwierigkeiten steckte?«, fragte Clara verwirrt. »Und trotzdem haben sie ihr eine Abfindung gezahlt? Wie geht das denn zusammen?«
Gruber seufzte. »Wie gesagt, ich denke, das war nur ein Vorwand. Sie wollten sie loswerden. Die Firma existiert nämlich nach wie vor. Wahrscheinlich haben sie einfach eine jüngere Buchhalterin eingestellt. Die sind flexibler und billiger.«
Clara schwieg. Ihre Gedanken wanderten zu Gerlinde Ostmann, die nach zwanzig Jahren in ein und derselben Firma plötzlich vor dem Nichts gestanden hatte. Keine Freunde, keine Familie und dann auch noch keine Arbeit mehr: nichts.
Grubers Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. »Sie glauben also jetzt auch, dass ein Zusammenhang zwischen den beiden Fällen besteht?«, fragte er, und seine Stimme klang hoffnungsvoll.
Clara überlegte einen Augenblick. »Ich weiß nicht«, sagte
sie schließlich zögernd. Sie wusste es wirklich nicht. Sie wusste nicht einmal, warum sie sich an diesem Abend die Akte noch einmal vorgenommen hatte. Es war nur ein Gefühl. Ein ziemlich vages noch dazu, und sie konnte gar nicht sagen, woher es rührte, doch es war da. In ihr pochte und hämmerte etwas leise, aber hartnäckig wie ein Zeigefinger, der unbewusst auf die Tischplatte trommelt, während man an etwas anderes denkt. Er trommelte auf dem Fall Ostmann herum, ohne dass Clara wusste, weshalb. Irgendetwas drängte sie zu glauben, dass diese beiden Fälle mehr verband als nur der gleiche Fundort der Leiche. Irgendetwas war zu ähnlich, als dass man es als bloßen Zufall hätte abtun können, selbst wenn, oberflächlich betrachtet, nichts wirklich dafür sprach.
Clara beschloss, ihrem Gefühl zu trauen, obwohl die Gefahr bestand, dass dieses Gefühl nichts weiter als eine Selbsttäuschung war, um die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen: der Tatsache, dass sie nichts, rein gar nichts in der Hand hatten, was Gruber entlasten konnte. Denn so würden es Grubers Kollegen und die Richterin sehen, wenn sie mit dem Fall Gerlinde Ostmann ankäme: als einen hilflosen Versuch, einen Unbekannten aus dem Hut zu zaubern, um vom eigentlichen Täter abzulenken. Im Augenblick war diese Ahnung auch nichts weiter als eine ungenaue Richtung, die sie einschlagen konnten, um möglicherweise etwas in Erfahrung zu bringen, das gegenüber dem Gericht von Gewicht sein konnte. Eine sehr ungenaue Richtung. Aber da sie ohnehin nichts anderes hatten, konnte sie diesem Gefühl auch genauso gut nachgehen.
»Es kann zumindest nicht schaden, sich diesen Fall noch einmal genau anzusehen«, meinte sie schließlich vorsichtig. Sie wollte Gruber nicht zu viel Hoffnung machen.
»Ja! Das sehe ich auch so!« Gruber klang plötzlich sehr eifrig.
»Ich werde gleich morgen …«, begann er, doch Clara unterbrach ihn.
»Nein. Sie werden jetzt erst einmal gar nichts tun. Ich werde mich darum kümmern und mich dann bei Ihnen melden.«
»Aber …«, widersprach Gruber empört. »Sie wissen doch gar nicht, wie man da vorgeht. Das ist kein Anwaltskram, sondern polizeiliche Ermittlungsarbeit.«
»Eben. Und Sie sind beurlaubt, nicht wahr? Stellen Sie sich vor, wir finden tatsächlich einen Hinweis auf eine Verbindung zwischen den beiden Fällen, und dann kommt heraus, dass dieser Hinweis ausgerechnet von dem Beamten entdeckt wurde, der in diesem Fall unter Tatverdacht steht. Was, glauben Sie, kann ich dann mit diesem Hinweis anstellen?«
Gruber
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