Seelengift
sie einen Herzanfall bekommen hatte und um ihr Leben kämpfte, dort einfach wie einen Müllsack auf einer wilden Deponie abgeladen hatte? Immerhin hatte er gerade noch mit ihr geschlafen. Sie überlegte. Vielleicht war es ein Geistlicher gewesen? Den plötzliches Entsetzen über seine eigene Sündhaftigkeit gepackt hatte? Clara kicherte etwas unpassend bei der Vorstellung eines Priesters in wallender Soutane, wie er diese schändliche Tat beging, und rief sich schnell zur Vernunft: Die Vermutung, Gerlinde Ostmann habe sich mit einem Priester zu einem nächtlichen Stelldichein neben dem Nordfriedhof getroffen, war wohl doch etwas zu weit hergeholt.
Und was war eigentlich mit den Kleidern von Gerlinde Ostmann? Clara blätterte zum Tatortbefundbericht. Richtig: Man hatte die Kleider am Tatort gefunden. Sie waren genau aufgelistet: eine beigefarbene Hose, ein dunkelbrauner Pullover, beides von C & A, blickdichte, schwarze Seidenstrümpfe, Baumwollunterwäsche, eine dunkelgrüne Steppjacke, ein weißer Wollschal und Winterstiefel aus braunem Synthetik mit Kunstpelzfutter. Dazu eine schwarze Umhängetasche aus Leder. Clara runzelte die Stirn. Nach einem Rendezvous sah diese Kleidung nicht gerade aus. Eher Alltagskleidung, Bürokleidung. Was hatte Gruber erzählt? Gerlinde Ostmann war entlassen worden, der Tag vor ihrem Tod war ihr letzter
Arbeitstag gewesen. Sie las nach, was in der Tasche gewesen war: Handschuhe, eine weiße Wollmütze, Taschentücher, Handcreme und eine Karte mit Abschiedswünschen ihrer Arbeitskollegen. Kein Geldbeutel, keine Hausschlüssel. Deshalb war es den Beamten auch nicht gleich gelungen, sie zu identifizieren, zumal keine Frau vermisst gemeldet war, auf die die Beschreibung der Toten gepasst hätte.
Clara dachte nach. Die Frau war entlassen worden. Also kein Grund, irgendetwas zu feiern. Höchstens ein Grund, sich aus Frust zu betrinken. Sie war auch nicht so gekleidet gewesen, als hätte sie sich mit einer Internetbekanntschaft zu einem heißen Date verabredet. Baumwollunterwäsche! Clara schüttelte den Kopf. Nein. Diese Sache war mit Sicherheit nicht geplant gewesen. Die Polizei hatte ihre Arbeitskollegen befragt, doch niemand hatte eine Ahnung, mit wem sie sich am Abend getroffen haben könnte. Clara las sich die Aussagen noch einmal durch. Sie waren deprimierend kurz. Keiner hatte Gerlinde Ostmann offenbar näher gekannt. Als sie die Aussage einer Kollegin las, stutzte sie einen Augenblick.
»Gerlinde ist früher gegangen«, gab diese an. »Eigentlich war das für sie gar kein Arbeitstag mehr, sie ist nur gekommen, um sich zu verabschieden. Wir haben ihr Blumen geschenkt und eine Abschiedskarte, was man halt so macht. Sie ist so gegen zwei, halb drei gekommen und um vier wieder gegangen. Wir mussten ja weiterarbeiten.«
Clara biss sich auf die Lippen. Sie konnte sich diese Verabschiedung genau vorstellen. Ein paar gekünstelte Umarmungen, wenn überhaupt, ein paar halbherzige Fragen nach Zukunftsplänen, der Rest peinliches Schweigen. Nach und nach dann verkrümeln sich die Kollegen an ihre Schreibtische, man gehört schon nicht mehr dazu, ist schon Vergangenheit. Gerlinde Ostmann war ziemlich lange geblieben, dafür,
dass nichts mehr zu tun war und sich niemand für sie interessiert hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich nicht losreißen können, nicht gewusst, was sie sonst tun sollte. Bis ihr nach gut eineinhalb Stunden nichts anderes übriggeblieben war und sie gehen musste. Aber wohin? Nach Hause? Clara sah auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Noch nicht zu spät für einen Telefonanruf.
Gruber antwortete nach dem ersten Klingeln. Nein, er war noch nicht im Bett gewesen, ja, sicher könnte sie ihn etwas zum Fall Ostmann fragen. »Schießen Sie los«, sagte er.
»Hat man in Gerlinde Ostmanns Wohnung Blumen gefunden?«
»Blumen?«
»Ja. Einen Blumenstrauß. Sie hat an dem Tag Blumen von ihren Kollegen bekommen«, erklärte Clara und wartete gespannt.
Auf der anderen Seite war Stille. Gruber dachte nach. Dann sagte er langsam: »Nein. Keine Blumen. Nicht einmal eine Topfpflanze. Nur die Katze.«
Clara nickte. »Dann ist sie wohl gar nicht mehr nach Hause gegangen. Sonst hätte sie die Blumen ins Wasser gestellt. Die Abschiedskarte der Kollegen war auch noch in ihrer Tasche.«
»Kann gut sein«, stimmte Gruber zu. »Sie hat die Blumen unterwegs irgendwo liegen lassen. Oder weggeworfen.«
»Aber wo ist sie gewesen, zwischen vier Uhr nachmittags und halb zwei Uhr nachts?«
»Keine
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