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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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»Stör’ ich?«
    Armin schüttelte den Kopf und setzte sich auf.

    Gruber wollte sich auf den Schreibtischstuhl setzen, dort hatte er früher auch immer gesessen, wenn er versucht hatte, mit seinem Sohn zu reden. Versucht hatte, gegen die Musik aus der Anlage anzureden oder gegen das Gedudel irgendeines Computerspiels. Selten genug war das überhaupt vorgekommen. Meistens hatte Irmgard es in die Hand genommen, mit Armin zu reden, wenn es Probleme gab, in der Schule, oder wenn er es mit dem Weggehen am Abend zu sehr überzogen hatte.
    Überrascht bemerkte Gruber, dass der Stuhl nicht mehr da war. »Wo ist denn dein Schreibtischstuhl?«, fragte er.
    Armin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich habt ihr ihn woanders gebraucht?«
    Da fiel es Gruber wieder ein. Er selbst war es gewesen, der ihn weggenommen hatte. Bei seinem eigenen Stuhl, der in dem winzigen Arbeitszimmer neben dem Schlafzimmer stand, das eigentlich ein begehbarer Kleiderschrank hätte sein sollen (warum zum Teufel sollten Leute, die in einer Dreizimmerwohnung in einem Sechzigerjahre-Mietblock in Milbertshofen wohnten, einen begehbaren Kleiderschrank brauchen?), war die Lehne gebrochen, und er hatte es nicht für notwendig erachtet, einen neuen zu kaufen. Für die wenigen Male, in denen er tatsächlich zu Hause arbeitete, lohnte es doch gar nicht. Außerdem gab es ja diesen fast neuen Stuhl in Armins Zimmer, den er damals nicht nach Berlin hatte mitnehmen wollen. Wenn er nach Hause kam, würde er ihn seinem Sohn wieder ins Zimmer stellen, hatte er gedacht. Das hatte er jetzt natürlich vergessen.
    »Ach ja, den hab’ ich im Büro stehen, warte, ich hol’ ihn schnell …«, sagte er und wandte sich zur Tür.
    »Ach, Schmarrn, Papa, jetzt bleib halt da!«, rief sein Sohn und rutschte unvermittelt ins Bayerische, das in Berlin so
spurlos von ihm abgewaschen worden war, dass sein Vater geglaubt hatte, es sei für immer vergessen.
    Gruber zögerte. »Aber es ist ja dein Stuhl. Es tut mir leid, dass ich vergessen hab’, ihn zurückzustellen …« Er verstummte, als er Armins Gesicht sah, und setzte sich stattdessen neben ihn aufs Bett. »Kann ihn ja später auch noch bringen«, murmelte er und starrte auf den Flyer in der Hand. »Ich hab’ mir gedacht, wir nehmen diese Firma. Was meinst?«
    Er hielt Armin den Flyer hin, doch sein Sohn griff nicht danach. »Ist gut«, sagte er nur und sah seine eigenen Hände an.
    »Die andere Firma war so …« Gruber suchte nach Worten, räusperte sich.
    »… ramschig«, half ihm Armin und lächelte ein bisschen. »Wie bei einem Discounter.«
    »Ja, genau. Ramschig. Das hätt’ deiner Mutter nicht gefallen, glaub’ ich.«
    »Nein, das hätte ihr nicht gefallen.«Armin schüttelte den Kopf und presste die Lippen zu einem Strich zusammen.
    Gruber sah, wie sein Kinn zuckte. Er zögerte, überlegte, ob er den Arm um seinen Sohn legen sollte. Doch er wartete zu lange.
    Armin rückte von ihm ab, rutschte nach hinten zur Wand und schlang die Arme um seine Knie.
    Gruber blieb unschlüssig sitzen. »Brauchst was?«, fragte er schließlich. Armin schüttelte den Kopf.
    Gruber räusperte sich erneut. Er fürchtete sich vor dem nächsten Satz, hatte Angst, die Stimme würde ihm wegbleiben. »Was ich dir die ganze Zeit sagen wollte, Armin … also … glaub mir bitte, ich … war das nicht. Ich schwör’s dir!« Gruber senkte den Kopf, wagte nicht, seinen Sohn anzusehen. Er schämte sich so sehr, diese Worte überhaupt sagen zu müssen. Aber trotzdem hatte er das Gefühl, es sei notwendig.

    Ein seltsamer Laut kam von Armin, eine Art entsetztes Keuchen, und Gruber hob den Kopf.
    Armin starrte ihn an, und in seinem Blick lag die gleiche Scham, die Gruber spürte. »Aber Papa! Das weiß ich doch!«
    Und dann begann er zu weinen, und Gruber klopfte ihm hilflos auf die Schulter und schloss die Augen. Ihn überkam mit einem Mal ein so heftiges Gefühl von Reue und Verlust, dass er es kaum aushalten konnte. So viel war zerbrochen in den letzten Jahren, so viel unwiederbringlich vergangen. Es schmerzte fast noch mehr als der Tod seiner Frau. Er zog seinen Arm zurück und stand hastig auf. Wenn er jetzt hier sitzen blieb, würde er am Ende auch noch zu weinen anfangen, und dann würde er in ein Loch fallen, aus dem er nie wieder herausfand. Das konnte er nicht zulassen. Er musste schließlich weiterleben. Auch für Armin. Vor allem für ihn.
    »Ich hol’ jetzt deinen Stuhl«, sagte er und ging hinaus.

ZWÖLF
    In

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