Seelengift
unbemerkt beobachten. Sie kannte ihn längst. Sie war die Jägerin, und er war die Beute. Er senkte den Kopf und schloss die Augen. Da war es wieder, dieses Gefühl der absoluten Hilflosigkeit, das ihn begleitete, seit er denken konnte. Nichts konnte er tun, nichts richtig machen, nichts bewirken. Er blieb immer das Opfer, immer die Beute.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er wieder aufstehen konnte. Automatisch hob er das Handtuch vom Boden auf und warf es in die Wäschetüte, die an der Türklinke hing. Dann ging er zum Waschbecken, um sich noch einmal die Hände zu waschen. Er schrubbte und schrubbte mit der Wurzelbürste, bis Blut kam, in der Hoffnung, der Schmerz werde die demütigenden Bilder aus seinem Kopf vertreiben. Doch immer, wenn er in den Spiegel
über dem Becken sah, sah er dort statt seines Gesichts das der Anwältin, böse lächelnd, umgeben von einem Kranz roten Haars: »Kann ich Ihnen helfen? Brauchen Sie ein Glas Wasser?« Er ließ die Wurzelbürste fallen, scheppernd landete sie im Becken, wo das Blut sich mit dem Wasser vermischte und gurgelnd den Abfluss hinunterrann. Mit der rechten Faust hieb er auf den Spiegel ein, doch erst der zweite Hieb war heftig genug, ihn zerbersten zu lassen. Klirrend landeten die Scherben im Becken und auf dem Boden, und das Gesicht war verschwunden. Mit einer müden Handbewegung drehte er das Wasser ab und setzte sich wieder auf seinen Stuhl, die wunden Hände so vor sich ausgestreckt, dass sie trocknen konnten.
ELF
Als Clara an diesem Tag nach Hause kam, schien ihr die Leere ihrer Wohnung nahezu unerträglich. Man sah es den Räumen an, dass sie das ganze Wochenende leer gestanden hatte, während sie bei Mick gewesen war. Sie waren ausgekühlt und wirkten verlassen. Das Frühstücksgeschirr vom Samstag stand noch in der Spüle, und das Bett war nicht gemacht. Clara seufzte. Wenn sie doch ein wenig mehr Talent zur Häuslichkeit hätte. Wenn sie es nur einmal schaffen würde, ein bisschen vorzuplanen, vorausschauend einzukaufen, damit etwas im Haus war, wenn man Hunger bekam. Sie mochte ihre Wohnung sehr, doch manchmal fehlte ihr einfach die Kraft, sich um sie zu kümmern. Vor allem, seit Sean studierte und nur noch zu allen heiligen Zeiten nach Hause kam.
Clara schälte sich aus Mantel, Schal, Handschuhen, Mütze und Stiefeln und trug ihre Einkäufe, die sie während des Heimwegs noch schnell erledigt hatte, in die Küche. Elise folgte ihr auf den Fersen. Clara bereitete ihrer Dogge eine Salatschüssel voll Futter, räumte den Kühlschrank ein, legte Oliven, klein geschnittene Tomaten, Schafskäsewürfel und eine Scheibe Brot auf einen Teller und setzte sich mit ihrem Abendessen an den kleinen Küchentisch. Elise hatte ihr Mahl schon fast beendet und war gerade damit beschäftigt, die große, fast leere Schüssel klappernd durch die Küche zu schieben, in der Hoffnung, so auch noch den letzten Krümel Futter zu erwischen. Als sie damit an der Wand angelangt
war, kippte die Schüssel um. Elise stutzte einen Augenblick und bellte sie dann auffordernd an. Als die Schüssel nicht reagierte, schob sie sie mit ihrer großen Pfote ein wenig hin und her und warf dann Clara einen vorwurfsvollen Blick zu. Clara lachte und kraulte ihren Hund hinter den Ohren. »Jetzt ist Schluss mit Abendessen. Sonst wirst du noch fett, meine Liebe.« Elise trollte sich schicksalsergeben, und Clara konnte hören, wie sie ins Wohnzimmer tapste und sich mit einem Ächzen auf der Couch niederließ. Das würde nachher wieder einen Kampf geben, sich diesen Platz zurückzuerobern oder zumindest einen Teil davon mit zu beanspruchen.
Unvermittelt schweiften Claras Gedanken ab und landeten bei Gerlinde Ostmann, Grubers ungeklärter Leichensache. Sie war gestorben, und niemand hatte sie vermisst. Keine Familie, keine Freunde, nur eine Katze. Clara räumte ihren Teller weg und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und ging ins Wohnzimmer. Elise lag in ihrer ganzen Pracht ausgestreckt auf dem Sofa mit dem Kopf auf der Lehne und schnarchte. Clara schob Beine und Hinterteil ihres Hundes ein wenig zusammen und quetschte sich mit angezogenen Beinen, den Aschenbecher auf den Knien balancierend, dazu. Nachdenklich drehte sie ihre Zigarette zwischen den Fingern und sah dem bläulichen Rauch nach, der sich nach oben kräuselte. Erst ihre vierte Zigarette heute. Wenn das so weiterging, würde sie noch Nichtraucherin, ohne es zu
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