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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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dieser Nacht träumte er von seiner Mutter. Lange schon hatte sie sich aus seiner Erinnerung entfernt, war nur noch ein blasses Gesicht aus der Vergangenheit wie sein Vater, der schon einige Jahre vor ihr gestorben war. Nichts war übriggeblieben als ein paar Erinnerungsfetzen hie und da, Dinge, die sie gesagt oder getan hatte, die wie Schlaglichter auftauchten und wieder verschwanden, aber nichts mehr mit seinem heutigen Leben zu tun hatten. Doch heute Nacht träumte er von ihr. Dabei war sie im Traum fast gar nicht zu sehen. Und doch handelte er von ihr. Er war wieder ein kleiner Junge, hier in dieser Wohnung, in der sie schon immer gewohnt hatten, sein Vater, seine Mutter und er. Wenig hatte sich verändert seit dieser Zeit, sogar der Teppich im Wohnzimmer war noch der gleiche wie damals. Er hatte nie daran gedacht, ihn wegzuwerfen, warum auch? Was machte es schon, wenn er an manchen Stellen ein wenig ausgetreten war? Ein echter Perserteppich, handgeknüpft, hatte seine Mutter immer gesagt und ihn täglich mit ihrem Ungetüm von Staubsauger gereinigt. Heute wusste er, dass das nicht stimmen konnte. Für einen echten Perserteppich war das Muster zu grob, das Material zu billig. Doch als kleiner Junge hatte er das nicht gewusst. So hatte er immer eine gehörige Portion Ehrfurcht, gepaart mit Angst, verspürt, wenn er in Strümpfen oder Pantoffeln (nie, niemals mit Straßenschuhen!) über den Teppich gelaufen war. Angst deshalb, weil er immer gefürchtet hatte,
den Teppich versehentlich zu beschädigen oder zu verschmutzen.
    Er war ja so ungeschickt gewesen als kleiner Junge. Ein dummer, unbeholfener Tollpatsch. Unser kleiner Kartoffelsack, hatte seine Mutter ihn immer genannt, weil er so plump und unförmig gewesen war. Natürlich hatte sie es nicht böse gemeint, es war ja auch seine Schuld gewesen, dass er so unsportlich war. Er hatte sich nicht getraut, beim Schulsport so mitzumachen wie die anderen Kinder, war nie draufgängerisch oder auch nur flink oder kräftig gewesen. Er hatte sich vor den lauten, aggressiven Buben gefürchtet, vor den ständig kichernden Mädchen, die auf ihre Art mindestens so gemein sein konnten wie die Buben, vor dem Ball, dem Stufenbarren, den Ringen und dem Kasten, über den er nie springen konnte, ohne mindestens einmal aufzusetzen. Meistens kam er nicht einmal hinüber, blieb hängen wie eine faule Tomate, die jemand an die Wand geworfen hatte. Es war natürlich seine Schuld. Er hätte sich mehr anstrengen müssen. Dann wäre er auch geschickter, gewandter geworden.
    Er hatte sich schon angestrengt, gewaltig sogar. Aber es hatte nichts genützt. Es waren die falschen Dinge gewesen, für die er sich angestrengt hatte: Das Akkordeonspielen zum Beispiel, das seine Mutter ihm nur erlaubt hatte, weil er zu unmusikalisch, zu dumm für die Geige gewesen war. Er hatte sich schuldig gefühlt, weil er seine Mutter mit dem Geigespielen nicht hatte zufriedenstellen können. Er hätte sich ein bisschen mehr anstrengen können, am Anfang, als er versucht hatte, es zu lernen. Doch seine Finger waren zu ungeschickt gewesen, es hatte immer geklungen, wie wenn man einer Katze auf den Schwanz tritt.Und immer, wenn er einen Ton nicht getroffen hatte, was fast ununterbrochen geschah, hatte seine Mutter, die bei jeder Übungsstunde, die bei ihnen
zu Hause im Wohnzimmer stattfand, hinter ihm auf dem Sofa saß, geseufzt. Manchmal, wenn es besonders schrecklich klang, hatte sie gelacht und »O mein Gott!« gerufen.
    Als ihm dann einmal die Geige aus den verschwitzten Fingern gerutscht und auf den Boden gefallen war, war die Mutter aufgestanden und hatte das »Trauerspiel« beendet, wie sie es nannte. Der Musiklehrer, ein blasser, stiller Mann mit langen Fingern und einem langen Gesicht, hatte seinen Lohn für einen ganzen Monat bekommen und war schnell und komplikationslos verabschiedet worden. An diesem Abend, beim Essen - er konnte sich noch genau erinnern, dass es Pellkartoffeln mit Butter und Käse gegeben hatte - hatte die Mutter ihm und dem überraschten Vater verkündet, dass der Junge »verdammt noch mal« dieses Bauerninstrument lernen könne. Zu etwas anderem tauge er ja ohnehin nicht, und so würde er wenigstens Noten lernen. Er hatte sich so gefreut an diesem Abend. Sogar die Scham über sein Versagen war darüber verblasst.
    Aber natürlich hatte seine Mutter die Freude bemerkt, obwohl er versucht hatte, sie zu verbergen. Sie hatte ihn angesehen, auf diese ihr eigene Art, mit hochgezogenen

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