Seelengift
knurrte unwirsch, doch Clara wusste, dass er ihr insgeheim zustimmte. Zustimmen musste.
»Sie müssen mir vertrauen.«
»Ja, ja, ist ja gut. Aber was soll ich dann tun? Daheim rumsitzen und Däumchen drehen?«
Clara dachte an Armin, Grubers Sohn, an sein blasses, verzweifeltes Gesicht, als er am vergangenen Montag zu ihr gekommen war, und an den Augenblick, als er Gruber nach dem Haftprüfungstermin vor dem Gericht abgeholt hatte. An seinen unbeholfenen Versuch, seinen Vater zu umarmen. An die Distanz, die so offensichtlich zwischen den beiden geherrscht hatte.
»Kümmern Sie sich um Ihren Sohn«, sagte sie, barscher als beabsichtigt. »Er braucht Sie.« Dann legte sie schnell auf.
Gruber starrte den Hörer an, aus dem nur noch ein Besetztzeichen ertönte, und fluchte leise. »Verdammtes Weibsstück«, murmelte er, aber es lag kein echter Groll darin. Eher so etwas
wie widerwillige Achtung. Das war eine, die sagte, was sie dachte. So etwas gab es selten. Und Gruber war sich nicht sicher, ob er eigentlich immer so genau wissen wollte, was andere dachten. Vor allem, wenn sie recht hatten. Und natürlich hatte sie recht. Er musste sich um Armin kümmern. Und um die Beerdigung. Armin hatte ihm heute Abend sogar schon Unterlagen von zwei Bestattungsunternehmen hingelegt, bevor er in sein Zimmer verschwunden war. Die Leiche seiner Frau war heute Morgen freigegeben worden. Er legte das Telefon auf die Basisstation und nahm die Prospekte in die Hand. Ohne Interesse überflog er die wenigen Zeilen auf dem ersten Flyer, die mit zurückhaltendem Ernst und gediegener Aufmachung (Trauerrand um jede Seite) über die unterschiedlichen Leistungen informierten. Der zweite Prospekt war weniger pietätvoll. Er zeigte Fotos von Särgen und Urnen in verschiedenen Preisklassen »für jedes Bedürfnis und jeden Geldbeutel« und pries als Sonderangebot eine »All-inclusive-Bestattung« an. Gruber zerknüllte den zweiten Prospekt und versuchte, sich dazu zu überreden, aufzustehen und ihn in den Müll zu werfen. Doch seine Überredungskünste scheiterten kläglich. Seine Glieder waren aus Blei, und er war müde. So müde.
Natürlich hatte die Niklas recht. Er musste sich um Armin kümmern. Wie sollte der Junge sonst damit fertig werden? Die Mutter tot, ermordet, und der Vater unter Mordverdacht. Ein seltsames Gefühl überkam ihn, als er diesen Gedanken so plötzlich überdeutlich vor Augen hatte, wie die Schlagzeilen einer Boulevardzeitung. Es war ein Gefühl, als ob ihm jemand einen heftigen Schlag in die Magengrube versetzt hätte, und er schnappte nach Luft. Das zerknüllte Papier fiel ihm aus der Hand und auf den Boden, doch er hob es nicht auf. Sollte es doch liegen bleiben.
Erst nach geraumer Zeit, während der er auf den Boden gestarrt hatte und es ihm immer mehr so vorgekommen war, als hätte er die hellgrau gemusterten Fliesen noch nie zuvor gesehen, stand er schwerfällig auf und nahm den einen Prospekt, den gediegenen mit dem Trauerrand, in die Hand. Ihm war ein wenig schwindelig, und seine Hände zitterten, doch das lag wohl daran, dass er heute noch kaum etwas gegessen hatte. Er konnte nichts essen. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und wenn er morgens ein halbes Brot hinunterwürgte, dann nur mit Mühe und nur, um seinem Sohn ein Vorbild zu sein, der ebenso reglos wie er vor seiner unberührten Frühstückssemmel saß. War das nicht auch ein Sich-Kümmern? Das Brot zu essen, obwohl ihm fast schlecht dabei wurde, damit auch der Sohn etwas aß? Vielleicht ein bisschen, aber Gruber zweifelte daran, dass die Niklas so etwas gemeint hatte. Er wusste genau, was sie im Kopf gehabt hatte: reden. Aber wie sollte er mit Armin reden, wenn ihm doch die Worte fehlten? Ihm war, als wäre er innerlich ganz stumm geworden. Sein Mund bewegte sich zwar, um alltägliche Sätze auszusprechen, aber das hatte nichts mit ihm zu tun. Das funktionierte automatisch. Er funktionierte automatisch. Er ging langsam zum Zimmer seines Sohnes, lauschte an der Tür: absolute Stille. Keine Musik, kein Fernseher. Noch bevor er es sich anders überlegen konnte, klopfte er.
Armin lag auf dem Bett. Er war noch vollständig angezogen, sogar die Schuhe hatte er noch an. Dicke Winterschuhe mit markantem Profil, fast wie Bundeswehrstiefel. Seine Mutter hätte das nicht gerne gesehen, wie er da mit den Schuhen auf dem Bett lag. Doch Gruber sagte nichts. Er ging ein paar Schritte ins Zimmer hinein und wedelte fast entschuldigend mit dem Flyer in seiner Hand.
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