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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Musikstil.«
    »Oh!« Clara starrte ehrfürchtig auf die beiden Karten. »Das ist toll.« Sie warf einen Blick nach draußen. Es war längst dunkel. Ein paar dick vermummte Gestalten gingen am Fenster von Ritas Bar vorbei, und der Feierabendverkehr staute sich auf der Straße. Die roten Rücklichter der Autos glühten kalt durch die dichten Auspuffgase hindurch. »Wenn es so etwas wie eine gute Fee gäbe«, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu Mick gewandt, »dann hätte sie sich nichts Besseres ausdenken können, um aus diesem Tag noch etwas Schönes zu machen.«

ACHTZEHN
    Er hatte sich verboten nachzusehen. Hatte es sich verboten. Verboten. Verboten. Verboten. Doch es machte ihn krank, nicht zu wissen, was vor sich ging. Er war fahrig und unkonzentriert, hatte einem Kunden fast eine H0- statt einer H1-Lok verkauft, und bei der Bestellung der Gleise und der verschiedenen Oberflächen hatte er sich andauernd verhaspelt.
    »Wollen Sie nun Schotter oder Flussufer, oder was?«, hatte ihn die unfreundliche Angestellte am anderen Ende der Leitung genervt gefragt.
    Er hatte am Ende beides bestellt, obwohl er Flussufer noch genügend auf Lager hatte. Dann, kurz vor Ladenschluss, war ihm das Modell Loreleyfelsen hinuntergefallen, das er zu Anschauungszwecken selbst zusammengebaut hatte, und ein Stück Felsen war abgebrochen. Man konnte es nicht mehr reparieren. Die Abbruchkante war zu groß und zerstörte das Gesamtbild. Er hatte das Modell eine ganze Weile behutsam in den Händen gehalten, hin und her gedreht und überlegt, was er daraus wohl noch machen könnte. Es war leicht, nichts als Styropor, Gipsbinden und ein bisschen Farbe, dazu aufgeklebte grüne Rasenstreusel mit bunten Sprenkeln darin. So leicht wie Luft, und trotzdem sah es täuschend echt aus. Die dunklen Felsen wirkten schwer und massiv. Bis zur Abbruchkante. Dort sah man, dass alles nur Betrug war. Er brachte es nicht über sich, das Modell wegzuwerfen. So viele Arbeitsstunden steckten darin. Doch es war nicht mehr zu gebrauchen.

    Unschlüssig trug er es in seine Teeküche und stellte es auf den Tisch. Dann setzte er sich. Das war gegen seine Gewohnheit. Er musste zuerst aufräumen, den Laden zusperren, die Kasse machen. Dann durfte er sich setzen. Aber heute war es anders. Er fühlte sich müde, vollkommen kraftlos. Er hatte den ganzen Tag an sie denken müssen. Und die ganze Nacht auch. War wachgelegen und hatte ihr rotes Haar vor sich gesehen, wie eine Flamme. Dann war er eingenickt, und die Flamme hatte sich in ein Feuer verwandelt, das alles auffraß, was ihm zu nahe kam. Ein Feuer, das man nicht löschen konnte.
    Er wischte sich mit den Händen über das Gesicht. Es fühlte sich fettig an, schmierig vom Staub eines ganzen Tages. Langsam ließ er die Hände sinken. Er hatte sich gestern Abend zwingen müssen, nicht in der Nähe ihrer Wohnung zu warten, bis sie nach Hause kam. Er hatte es sich nur vorstellen können, wie sie den Brief am Boden fand, ihn öffnete und vor Schreck fallen ließ. Hatte sie geweint? Oder war sie eine ganz Harte, die keine Miene verzog? Er hätte gerne gewusst, ob sie geweint hatte. Aber eines interessierte ihn noch viel brennender: Hatte sie verstanden? BEGRIFFEN? War es Warnung genug gewesen? Er hoffte es. Es musste doch einmal zu Ende gehen.
    Irmgard Gruber hatte so getan, als würde sie nichts begreifen. Bis ganz zum Schluss hatte sie so getan. Das hatte ihn immer wütender werden lassen. Immer wütender. Warum tat sie das? Warum verhöhnte sie ihn sogar noch in den letzten Minuten ihres Lebens? Warum? Hätte sie es nicht zugeben können? Sie war so stur gewesen, so unglaublich stur. Hatte ihren Verrat, ihre Bosheit bis zum Moment ihres Todes nicht zugeben können. Vielleicht waren alle Menschen so. Feige bis ins Mark. Richteten Unheil an und gaben es nicht zu. »Ums Verrecken nicht«, flüsterte er und sah auf seine Hände. Er
konnte sich nicht dazu durchringen aufzustehen. Er sollte den Laden zusperren. Es war schon nach sechs.
    Würde sie es wenigstens besser machen? Würde sie Ruhe geben, jetzt, wo sie wusste, dass er sich wehren würde? Würde die Warnung reichen, die er ihr hatte zukommen lassen? Oder etwa nicht? Seine Hände formten sich langsam zu Krallen, drückten einen imaginären Hals zu. Fester und fester, bis nichts mehr blieb, kein Röcheln, kein Flehen, nur noch Stille.
     
    Als er endlich aufstand, war es kurz vor sieben. Er sperrte die Tür zu, räumte leere Schachteln in den Keller, kehrte den

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