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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Verkaufsraum und rechnete dann die Kasse zusammen. Es dauerte nicht lange an diesem Abend. Als er den Laden verließ, war es acht. Es war noch immer kalt, bitterkalt, und kein Stäubchen Schnee war gefallen. Noch nicht einmal in den Bergen, wie er heute in der Zeitung gelesen hatte. Diejenigen Liftbetreiber, die keine Beschneiungsanlagen hatten, jammerten rum, ihre Existenz stünde auf dem Spiel. Er hatte nur müde lachen können über diesen Unsinn. Stand die Existenz nicht immer auf dem Spiel? Jeden Tag, jede Sekunde, immer wieder aufs Neue? Sie besaßen doch alle nichts anderes als ihre mickrige kleine Existenz. Glaubten diese Idioten etwa, der Winter kümmerte sich darum? Das war doch dem Winter wurscht. Vollkommen egal war dem das. Es gab überhaupt nichts und niemanden, der sich um die menschliche Existenz etwas geschert hätte, so großartig sie sich selbst auch vorkommen mochte. Sie lebten, krebsten ein wenig auf der Erde herum, und dann starben sie. Ohne eine Spur zu hinterlassen.
     
    Er ging langsam durch die Straße, die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben, die Mütze ins Gesicht gezogen.
Er war zu unruhig, um jetzt schon nach Hause zu gehen. Ein Spaziergang würde ihm guttun. Er musste nur aufpassen, wo er hinging. Letztes Mal, als er abends spazieren gegangen war, wäre er fast in die verbotene Zone geraten. Er hatte nicht aufgepasst. Ihm brach jetzt noch der Schweiß aus, als er daran dachte. Doch im Großen und Ganzen hatte sich die verbotene Zone durchaus bewährt. Damals, gleich danach, als es passiert war, hatte er daran gedacht wegzuziehen, aber dann hatte er es nicht über sich gebracht, seine Wohnung aufzugeben. Er war dort aufgewachsen. Und dann der Laden! Er hätte ihn ebenfalls aufgeben müssen, sich irgendwo etwas anderes suchen. Er war bereits bei dem bloßen Gedanken daran nervös geworden.
    Und so schlimm war es dann gar nicht gewesen. Wenn man aufpasste, musste man nie wieder in die Nähe der Kneipe kommen. Und so hatte er die verbotene Zone eingerichtet. Er hatte die Weichen in seinem Kopf so gestellt, dass sie ihn umleiteten, wenn er sich der Kneipe näherte. Die Ampeln sprangen auf rot, die Gleise schnappten ein und brachten ihn sicher aus dem Gefahrenbereich. Außerhalb der verbotenen Zone war die Gefahr, erkannt zu werden, nicht so hoch. Die Menschen waren ja sehr unaufmerksam. Einmal war ihm Heinz, der Wirt, in einem Drogeriemarkt in der Innenstadt über den Weg gelaufen. Direkt hinter ihm an der Kasse hatte er gestanden, und er hatte ihn nicht bemerkt. Wenn man jemanden nicht in der gewohnten Umgebung sieht, ihn nicht einordnen kann, erkennt man ihn schwerer. Und er hatte das Glück, sehr unauffällig zu sein. Die Leute vergaßen häufig sein Gesicht. Doch nachdem er heute Abend so besonders unruhig war, schlug er von Anfang an die entgegengesetzte Richtung ein, um sein inneres Weichensystem gar nicht erst auf die Probe zu stellen.

    Manchmal sehnte er sich nach der Kneipe. Es war schön dort gewesen. Vertraut. Er hatte sogar Akkordeon spielen dürfen, und den Leuten hatte es gefallen. Er hatte sich gewünscht, sein Vater könnte ihn dort sitzen und spielen sehen. Ganz selbstverständlich, so als ob er ein echter Musiker wäre und nicht nur ein Stümper, der sich einbildet, einer zu sein. Sein Vater wäre stolz auf ihn gewesen. Und seine Mutter? Er hätte sich gerne vorgestellt, dass sie auch stolz auf ihn gewesen wäre, endlich zufrieden, aber er wusste, dass es nicht so war: Sie wäre nicht stolz gewesen. Es hätte sie nur in ihrer Meinung bestärkt, dass ihr Sohn zu nichts anderem taugte, als plump und einfältig irgendwo herumzusitzen und dieses Bauerninstrument zu spielen, dessen schrille Töne bei ihr immer Migräne verursacht hatten. Wenn sie ihn gesehen hätte, wie er unter den Handwerkern und einfachen Leuten spielte und sich darüber freute, spielen zu dürfen, hätte sie sich für ihn geschämt.
    Er senkte den Kopf und beschleunigte seinen Schritt. Nicht immer diese Gedanken denken. Wie kam es nur, dass er in letzter Zeit so oft an seine Mutter dachte? Sie war tot. Es war vorbei. Es kam ihm so vor, als ließen sich seine Gedanken neuerdings noch weniger kontrollieren als früher. Seit jenem verfluchten Abend in der Kneipe. Da hatte alles angefangen. Sein Kopf hatte irgendwie ein Eigenleben entwickelt, er funktionierte plötzlich vollkommen unabhängig vom Rest seines Körpers. Diese verselbständigten Gedanken machten ihm Angst, er fürchtete sich vor

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