Seelengift
heraus, strich sie glatt und las, was sie darauf geschrieben hatte: Brieftasche! Haustürschlüssel! Sie nickte langsam. Ihre vage Ahnung von heute Mittag, die ihr jetzt, als sie auf die Worte starrte, schlagartig wieder ins Bewusstsein drang, hatte sich überraschend schnell als zutreffend erwiesen: Ihr war durch den Kopf gegangen, dass die Mitnahme der Brieftasche mit allen Papieren sowie der Hausschlüssel nicht nur die Identifikation des Opfers erschwert, sondern den Täter außerdem in die Lage versetzt hatte, sich unauffällig Zugang zur Wohnung zu verschaffen. Doch Clara hatte sich nicht vorstellen können, welchen Grund der Täter dafür gehabt haben könnte. In der Akte stand keinerlei Hinweis darauf, dass die Wohnung durchsucht oder etwas gestohlen worden wäre. Darauf, dass der Mörder in die Wohnung gegangen war, um die Katze zu füttern, wäre Clara nie gekommen. Vielleicht war es nicht der einzige Grund gewesen, aber trotzdem: Er hatte der Katze zu fressen und zu trinken gegeben und ihr so wahrscheinlich das Leben gerettet.
Clara schüttelte den Kopf. Das ergab doch keinen Sinn. Warum sollte er so etwas tun? So ein Risiko eingehen wegen einer Katze? Wo er doch Gerlinde Ostmann einfach hatte
sterben lassen. Sie schüttelte erneut den Kopf, dieses Mal heftiger. »Er ist nicht kaltschnäuzig«, murmelte sie. »Nicht in dem Sinne, dass es ihm egal wäre, was er tut. Im Gegenteil.« Sie hob den Kopf, durch die letzten beiden Wörter hatte sie sich selbst abrupt aus ihren eigenen Gedanken herausgerissen. Was bedeutete »im Gegenteil«? Warum hatte sie das gedacht? Sie gab sich die Antwort unmittelbar selbst: »Weil er darunter leidet. Weil er daran verzweifelt.«
Ihr fiel der Bibelspruch auf der Todesanzeige wieder ein:
Mein Herz zittert, Grauen hat mich betäubt, ich habe in der lieben Nacht keine Ruhe mehr davor…
» Er ist ein armer Teufel«, flüsterte Clara leise, und noch während sie sprach, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Es war ihr, als hätte sie mit diesen Worten den Mörder wahrhaftig berührt, ihm mitten ins Herz geschaut. Sie zuckte zusammen und schloss verwirrt die Augen, um das unheimliche Bild zu vertreiben.
Als sie den PC ausschaltete, bemerkte sie, wie ihre Hände zitterten. Sie stand hastig auf und blieb dann unschlüssig mitten im Raum stehen. Sollte sie nach Hause gehen oder zu Mick? Er hatte sich den ganzen Tag nicht bei ihr gemeldet. Sie runzelte die Stirn. Er hätte wenigstens anrufen können. Dann also in ihre Wohnung. Hoffentlich funktionierte wenigstens die Heizung wieder. Sie griff nach der Tüte Gebäck, die noch immer unberührt dalag. Niemand hatte sie weggeräumt, niemand hatte ein Stück gegessen. Dann würde es eben alte Butterbrezen zum Abendessen geben. Sie stopfte die Tüte in ihre Tasche und ging nach unten zur Garderobe.
Die Traurigkeit überfiel sie völlig ohne Vorwarnung, als sie nach ihrem Mantel griff. Wie eine mächtige schwarze Woge spülte sie sie mit sich fort und ließ sie taumeln. Etwas ging zu
Ende. Etwas, was ihr so wichtig gewesen war. Und Mick hatte sich nicht gemeldet. Sie schloss die Augen, ließ das Gefühl ein wenig absacken und wischte sich dann unauffällig mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
»Morgen bin ich den ganzen Tag bei Gericht, und Freitagmorgen ist die Beerdigung von Walter Grubers Frau. Da bin ich nicht da«, sagte sie, mühsam ihre Stimme im Zaum haltend und ohne Linda anzusehen.
»Ja. Ist gut, ich werde es Willi ausrichten.«
Linda klang bekümmert, doch Clara hatte kein Mitleid mit ihr. Nicht das geringste. Sie wollte sie nicht mehr sehen, alle beide nicht.
»Sie haben doch noch eine Menge Urlaub vom letzten Jahr, oder?«, fragte sie, nachdem sich ihre Stimme wieder gefangen hatte. »Nehmen Sie ihn so bald wie möglich.«
Linda nickte. Dann hob sie den Kopf und sah Clara an. »Es tut mir so leid, wie das heute Morgen gelaufen ist«, meinte sie zaghaft.
Clara erwiderte ihren Blick kalt:«Tut es das, ja?« Sie hörte selbst, wie ätzend und bitter ihre Stimme klang.
Linda sah sie unglücklich an und schwieg. Plötzlich zuckte sie zusammen. »Oh, das hätte ich jetzt fast vergessen!«
Ihre manikürten Finger huschten auf dem Schreibtisch umher und griffen schließlich nach einem kleinen Notizzettel. »Sie sollen nicht nach Hause gehen.«
»Wie bitte?«, fragte Clara ungehalten. »Was soll das heißen, ich soll nicht nach Hause gehen?«
»Herr Hamilton hat angerufen …«
»Mick hat
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