Seelengift
Murphy’s. Eher ein Wirtshaus, mit einer kleinen Bühne, wo man Theater spielen kann, mit Kindern oder so …« Mick sah sie an. »Am liebsten irgendwo im Norden. Im Lake Distrikt oder in Schottland, in einem kleinen Dorf, in dem der Krämer gleichzeitig der Postmann ist.« Er lachte, und Clara hatte den Eindruck, dass er sogar etwas rot wurde. »Ich würde dann mit der Dorfjugend eine Shakespeare-Straßentheatergang gründen, und sie hätten etwas zu tun und ein bisschen Spaß.«
»Das ist eine schöne Idee«, sagte Clara und wunderte sich, wie wenig sie Mick doch kannte. Sie wusste, dass er ein Theaterfan war, aber dass er etwas mit Kindern machen wollte und außerdem davon träumte, ein Restaurant zu führen, darauf wäre sie nie gekommen.
»Warum bist du eigentlich nicht Lehrer geworden?«, fragte sie. »Du wärst sicher einer von den guten gewesen.«
Mick zuckte mit den Achseln. »Um ehrlich zu sein, ich habe gar keinen Abschluss gemacht. Ich habe das Studium im letzten Jahr vor der Prüfung abgebrochen.«
»Ach!« Clara hob die Augenbrauen, sagte aber nichts weiter. Auch das hatte sie nicht gewusst. Mick war erstaunlich vage geblieben, wenn es um diesen Teil seiner Vergangenheit ging, und hatte es immer gut verstanden, sie ganz beiläufig davon abzubringen, zu viele Fragen zu stellen. Bisher war ihr das noch gar nicht wirklich aufgefallen. Sie nahm sich vor, irgendwann noch einmal nachzuhaken. Jetzt fragte sie stattdessen: »Sehnst du dich eigentlich nicht manchmal nach zu Hause?«
Mick lächelte. »Heute willst du es aber ganz genau wissen, oder?«
Clara bemühte sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck. »Du interessierst mich eben. Mit allem Drum und Dran.«
»Auf einmal? Warst nicht immer du diejenige, die darauf beharrte, dass das Schöne an unserer Beziehung die Gegenwart sei? Keine Zukunft, keine Vergangenheit?«
Jetzt wurde Clara rot. »Man kann ja seine Meinung ändern, oder?«
Die Fältchen um Micks Augen vertieften sich.
»Manchmal fehlt mir etwas«, gab er zu. »Ich weiß nicht genau, was es ist, vielleicht die Landschaft, das Licht, irgendein Geruch, oder sich einfach nur unterhalten zu können und wirklich alle Zwischentöne, jeden Witz und jede Ironie auch zu verstehen. Und dann natürlich sehne ich mich hin und wieder nach dem wunderbaren Essen …«
Clara nippte an ihrem Glas und dachte an das kühle, klare Licht im Norden, die ständige Gegenwart des Meeres. »Das kann ich verstehen, also zumindest, was die ersten beiden Dinge anbelangt. Was jedoch das Essen betrifft …« Sie verzog zweifelnd das Gesicht.
»Du hast einfach keine Ahnung von den guten Dingen des Lebens«, gab Mick bekümmert zurück. »Aber ich werde dich
schon noch bekehren.« Er strich Clara eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Was ist dein Traum?«
»Oh.« Clara öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Sie musste erst nachdenken. Sie hatte so viele Träume gehabt, als sie jung gewesen war, und immer große Angst, nicht genug Zeit zu haben, sie alle zu verwirklichen. Doch wo waren sie geblieben? Manche hatten sich erfüllt, die meisten nicht, was jedoch, im Rückblick besehen, oft alles andere als eine Tragödie war. Und jetzt? Was war ihr Traum? Ihr fiel nichts ein. Das konnte nicht sein. Jeder hat Träume. Ohne Träume gab es keine Zukunft, da lief das Leben einfach nur so sinnlos dahin! Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Bestürzung ab. »Ich habe keinen Traum«, sagte sie, und ihre Stimme war heiser vor Schreck. »Keinen einzigen.«
Mick warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. Ihm war nicht entgangen, wie blass Clara bei ihren eigenen Worten geworden war. Er nahm ihre Hand. »Das ist doch nicht schlimm. Manchmal sind Träume ganz tief verborgen. Oder aber es bedeutet einfach, dass du glücklich bist mit deinem Leben, oder?«
Clara versuchte ein Lächeln. »Wenn du meinst, ja, so wird es sein.« Und plötzlich wünschte sie sich, Mick alles zu erzählen. Ihm den Drohbrief zu zeigen und zu versuchen, ihm die Angst zu beschreiben, die er in ihr ausgelöst hatte. Es war nicht einmal die unmittelbare Furcht vor etwas Bestimmtem, die sie so belastete, sondern eine plötzliche, tiefe Angst davor zu sterben. Einfach zu sterben, so wie Gerlinde Ostmann und Irmgard Gruber gestorben waren. »Plötzlich und unerwartet«, hieß es dann in den Todesanzeigen, und man las das Todesdatum, rechnete das Alter nach und war kurz beunruhigt, dann blätterte man weiter und vergaß den Menschen. Man hatte ihn ja nicht
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