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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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ihnen. Manchmal, nachts, saß er wach und wartete mit klopfendem Herzen, bis sie kamen. Sie kündigten sich meist an, wie ein leises Rascheln im Gebälk, ein Zittern, ein kalter Hauch. Dann kamen sie, und er konnte nichts dagegen tun. Er fühlte sich fremd, als schwebte er außerhalb seines Körpers, als existierte er gar nicht wirklich.
Nur die Gedanken, die waren real. Sie quälten ihn, schrien ihn an, drückten ihm das Herz zusammen. Und alle waren sie wahr. Er wusste, dass sie wahr waren. Doch er wollte sie nicht denken. Er konnte nichts mehr ändern. Er war ein schlechter Mensch, ein schwacher, schlechter Mensch. Doch sie ließen ihn nicht in Ruhe. Es genügte ihnen nicht, dass er ihnen recht gab. Sie wollten keinen Frieden, sie wollten ihn zerstören. Genauso wie die Anwältin. Würde sie jetzt Ruhe geben? Manchmal wünschte er sich, dass er gläubig wäre. Dann würde er dafür beten, dass sie Ruhe gäbe. Ihn in Frieden ließ, sie ihn alle in Frieden ließen, endlich.

    Es war spät, als Clara und Mick den Club verließen. Das Konzert hatte über drei Stunden gedauert. Immer wieder waren die Sängerin und ihre Band zurückgekommen und hatten Zugaben gegeben.
    Clara war noch ganz in der Musik versunken, und sie summte leise vor sich hin, während sie durch die nachtleeren Straßen gingen. Sie wollte noch nicht nach Hause fahren, und Mick hatte vorgeschlagen, in eine kleine Bar bei ihm um die Ecke zu gehen, die um diese Zeit noch geöffnet hatte. Das winzige Lokal war sehr beliebt bei Nachtschwärmern und melancholischen Trinkern, und sie fanden gerade noch Platz auf einer mit rotem Plüsch bezogenen Bank neben der Theke. Der ganze Raum war im Jugendstil gehalten, mit Goldtapete und Blattornamenten und kühlen Frauenporträts an den Wänden. Irgendwoher erklang leise Jazzmusik vom Band. Clara bestellte Whiskey, und zu ihrer Überraschung hatte die Bar »ihren« Whiskey, irischen, bernsteinfarbenen Redbreast, im Sortiment. Sie nippte mit geschlossenen Augen daran und lehnte sich dann träge zurück.

    Mick drehte ihr und sich selbst eine seiner dünnen Zigaretten, und Clara sah ihm dabei zu. Sie wusste selbst nicht recht, was ihr daran so gefiel, dass sie sich nicht satt sehen konnte. Vielleicht waren es die geschickten Bewegungen der Finger: Mick hatte schöne, schlanke Hände, man hätte ihn für einen Künstler oder Musiker halten können, und er trug mehrere silberne Ringe, von denen Clara nicht wusste, ob sie einfach nur Schmuck waren oder eine besondere Bedeutung hatten. Sie hatte nie das Bedürfnis verspürt, ihn danach zu fragen.
    Mick reichte ihr eine Zigarette und gab ihr Feuer. »Ab elf darf man hier rauchen«, meinte er zufrieden.
    Eine Weile rauchten sie schweigend, und Clara überlegte, ob sie Mick jetzt von dem Drohbrief und von Willi und seiner Absicht, die Kanzlei zu verlassen, erzählen sollte, doch allein der Gedanke daran verursachte ihr schon ein leichtes Magengrimmen. Dieses Thema würde ihr garantiert den schönen Abend verderben. Sie lehnte sich an Micks Schulter und nahm noch einen Schluck von dem Whiskey. Es hatte noch Zeit. Alles hatte Zeit.
    Ihr Blick wanderte über die goldenen Wände, die rote Decke und den dicken, stellenweise abgetretenen Teppich, und sie erinnerte sich an ein anderes Lokal, in dem sie einmal gewesen war, in Wien, vor ewigen Zeiten. Einige Wochen hatte sie in der Stadt gewohnt, vor vielen, vielen Jahren. In einem Haus mit endlos hohen Decken und zugigen Fenstern, in der sich eine große, schmuddelige, unübersichtliche WG mit ständig wechselnden Bewohnern eingerichtet hatte. Sie hatte dort eine flüchtige Bekannte besucht, die sie in Marokko kennengelernt hatte, und war geblieben, hatte sich treiben lassen, bis es Zeit gewesen war, wieder aufzubrechen zu ihrer ziellosen Wandertour durch halb Europa.

    »Hast du eigentlich einen Traum?«, fragte sie Mick plötzlich. »Ich meine, einen Traum, den du dir unbedingt erfüllen willst, irgendwann?«
    »Du meinst, einen Sohn zeugen und ein Haus bauen?«
    »So etwas in der Art, ja.«
    Mick überlegte. »Ja, schon«, sagte er schließlich etwas verlegen.
    »Und was ist es?« Clara richtete sich auf, sah ihn neugierig an und betete gleichzeitig ganz egoistisch: Lass es bitte, bitte keine riesengroße Familie mit zehn Kindern sein.
    »Eigentlich sind es mehrere Träume«, begann Mick und drückte seine Zigarette aus. »Ich hätte gerne ein Restaurant. Keinen Fünf-Sterne-Feinschmeckertempel, aber auch nicht so etwas wie das

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