Seelengrab (German Edition)
gelangweilt klang noch von großem Interesse zeugte, „zu wem möchten Sie bitte?“
Hirschfeld wiederholte sein Anliegen. Der Pfleger nickte und deutete den Gang entlang:
„Die letzte Tür auf der rechten Seite.“
Damit verschwand der Pfleger wieder im Personalraum. Als Hirschfeld das Zimmer fast erreicht hatte, bog ein älterer Herr in weißem Kittel um die Ecke. Sein graues Haar stand leicht zerzaust von seinem runden Schädel ab. Er trug eine Brille mit Goldrand, die nicht die richtige Stärke zu haben schien, denn er kniff unentwegt die Augen zusammen.
„Professor Konrad?“, vermutete der Kriminalhauptkommissar, dankbar für den Aufschub, den eine kurze Unterredung mit dem behandelnden Arzt bedeuten würde. „Mein Name ist Hirschfeld. Hatten wir wegen meines Vaters miteinander telefoniert?“
Der Mann runzelte für einen Augenblick die Stirn, dann hellte sich sein Gesicht auf.
„Ja, natürlich“, antwortete der Professor und lächelte ihn freundlich über den Brillenrand hinweg an.
„Meine Wohnungsauflösung in Berlin hat leider länger gedauert als ursprünglich geplant. Ich bin daher erst gestern Abend in Bonn angekommen.“
„Schön, dass Sie bereits heute Morgen den Weg zu uns gefunden haben. Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen die Entscheidung nicht leicht gefallen ist. Umso mehr freue ich mich, Sie zu sehen.“
„Danke“, entgegnete Hirschfeld knapp und löste sich aus dem langen Händedruck, den der Professor ihm aufgenötigt hatte.
„Darf ich Ihnen vielleicht unsere Station zeigen, bevor Sie zu Ihrem Vater gehen? Während des Rundgangs hätten wir Gelegenheit, noch ein wenig über ihn zu sprechen.“
„Geht es ihm besser?“, erkundigte sich Hirschfeld und folgte Professor Konrad weiter in das Innere der Station.
Die meisten Türen, die sie passierten, waren geschlossen.
„Lassen Sie mich eines vorweg sagen: Ihr Vater ist bei uns in den besten Händen. Fortschritte zeichnen sich jedoch in den meisten Fällen erst nach geraumer Zeit ab. Nach einer Woche Klinikaufenthalt dürfen Sie nicht allzu viel erwarten, Herr Hirschfeld.“
„Verstehe.“
„Seien Sie ein wenig nachsichtiger mit Ihrem Vater und sich selbst. Für die meisten Angehörigen ist es ein Schock, wenn sie erfahren, dass mit ihnen nahestehenden Personen etwas passiert ist, das nicht in die eigene Erfahrungswelt passt.“
Das war milde ausgedrückt, dachte Hirschfeld und blickte sich um. Sie hatten das Ende des Gangs erreicht, der in einer Art Tagesraum mit mehreren Tischen mündete. Von dort gingen drei weitere Flure ab. Als sie weitergingen, registrierte Hirschfeld, dass der rheinische Karneval auch nicht vor der Geschlossenen haltgemacht hatte: Von den Neonlampen unter der Decke hingen bunte Luftschlangen. Auf Luftballons hatte man dagegen verzichtet.
„Das ist unser Stützpunkt, das Herzstück unserer Station“, unterbrach der Professor seinen Vortrag und deutete auf einen großen Glaskasten zu ihrer Linken.
„In diesem Büro laufen im Prinzip alle Fäden zusammen: Hier findet die Medikamentenausgabe statt, werden der Therapiekalender geführt und die Dienstpläne gemacht.“
„Wie viele Patienten versorgen Sie zurzeit auf Ihrer Station?“
„Alle Zimmer sind belegt, das heißt, wir haben momentan 20 Patienten.“
Irgendwo schlug eine Tür. Dann hörten sie eine Frauenstimme, die aus einem der Patientenzimmer drang:
„121, 122, 123, 124 …“
„Daran dürfen Sie keinen Anstoß nehmen“, sagte der Professor achselzuckend und nickte in die Richtung, aus der die Stimme kam. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch den Fernsehraum, der sich, wie Sie sich vielleicht denken können, bei allen Patienten größter Beliebtheit erfreut. Und sollten Sie das Bedürfnis nach einer Zigarette haben, tun Sie sich keinen Zwang an. Dort drüben haben wir unsere Raucherecke.“
„… 156, 157, 158. Hilfe!“
„Danke, vielleicht komme ich nachher darauf zurück“, winkte Hirschfeld ab.
Er hatte fürs Erste genug gehört und gesehen und folgte dem Professor nur aus reiner Höflichkeit in den angrenzenden Fernsehraum. Als sie das Zimmer betraten, hoben mehrere Patienten die Köpfe und blickten in ihre Richtung, um sich sofort wieder auf den Röhrenfernseher zu konzentrieren. Die meisten trugen Trainingsanzüge oder einen Morgenmantel über ihrem Schlafanzug. Nur zwei von ihnen hatten an diesem Tag den Freizeitlook gegen normale Alltagskleidung getauscht. Über den Bildschirm an der Kopfseite des Raums flimmerte
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