Seelengrab (German Edition)
Abwechslung von der Besinnungslosigkeit, die dazwischenlag.
Trotz der räumlichen und emotionalen Entfernung, die zwischen ihnen bestand, war Lutz der Verfall seines Vaters nicht entgangen. Bei seinen Besuchen, zu denen er sich regelmäßig zwang, musste er mit ansehen, wie die Fassade eines Mannes zerbröckelte, der es zeit seines Lebens gewohnt war, den Ton anzugeben. Dahinter kam ein Mensch zum Vorschein, der seit einem halben Jahr nicht einmal mehr in der Lage war, sich regelmäßig zu waschen.
An ihre letzte Begegnung konnte Hirschfeld sich nur allzu gut erinnern. Der Anlass ihres Streites war vergleichsweise nichtig gewesen, aber die Ohrfeige, zu der sein Vater sich hinreißen ließ, hatte er noch tagelang gespürt. Nach diesem Vorfall hatte Hirschfeld sich eine Weile zurückgezogen. Erst Johannas Anruf an Heiligabend veranlasste ihn dazu, seine Gefühle zurückzustellen und um die Beschleunigung seiner Versetzung zu bitten, die er bereits vor zwei Jahren beantragt hatte.
Da konnte er allerdings noch nicht ahnen, dass die Exzesse seines Vaters steigerungsfähig waren. Die Kopie des Polizeiberichts, der den bisherigen Tiefpunkt seines Vaters dokumentierte, lag noch immer ungelesen zwischen Wäschestapeln in Hirschfelds Koffer.
Als Hirschfeld das Krankenzimmer betrat, schoss ihm durch den Kopf, dass sein Vater, nüchtern betrachtet, letztlich seinen Willen bekommen hatte: Lutz war ihm nach Bonn gefolgt. Wenn auch nicht ganz freiwillig.
„Vater?“
Hirschfeld schloss die Tür hinter sich.
„Ich bin’s, Lutz“, fügte er hinzu, als die Antwort ausblieb.
Rechts vom Eingang führte eine Tür in ein abgetrenntes Badezimmer, an der Wand daneben war ein kleines Waschbecken angebracht. Dahinter stand ein ausladender Wandschrank, der als Raumteiler fungierte und über die Hälfte der Zimmerbreite einnahm. Vor dem Fenster geradeaus stand ein schlichter Schreibtisch mit einem Holzstuhl davor. Auf der Rückseite des Schrankes schließlich befand sich das Bett, das dem Patienten durch seine Position eine gewisse Intimsphäre gewährte.
Heinrich Hirschfeld saß auf der Bettkante und starrte mit unbeweglicher Miene in das Schneegestöber, das die Welt draußen schemenhaft verzerrte. Er trug einen beige-braun karierten Schlafanzug. Seine nackten Füße steckten in grauen Filzpantoffeln.
„Vater?“, wiederholte Hirschfeld und zog sich den Schreibtischstuhl heran.
Er warf seinen Mantel über die Lehne und setzte sich.
„Wie geht es dir?“
Während Hirschfeld auf eine Reaktion wartete, studierte er das Profil seines Vaters, der ihn immer noch keines Blickes würdigte. Er entdeckte Ähnlichkeiten, die ihm bisher nie ins Auge gefallen waren: die gleiche kantige Stirn, die gleiche längliche Nase. Die hohen Wangenknochen und das spitze Kinn hatte er dagegen von seiner Mutter geerbt.
„Gut, wenn du nicht reden willst, dann schweigen wir eben. Hab nichts dagegen, Vater“, sagte Hirschfeld, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Hände vor dem Bauch.
Wenn er eines von seinem alten Herrn mit auf den Weg bekommen hatte, dann war es Dickköpfigkeit.
„Was willst du hier? Ich habe nicht darum gebeten, dass du herkommst“, erwiderte Heinrich Hirschfeld tonlos und wich nach wie vor seinem Blick aus.
„Ich freu mich auch, dich zu sehen“, versetzte Hirschfeld und schluckte den zweiten Teil des Satzes herunter.
Es hatte keinen Sinn, sich mit seinem Vater zu streiten. Nach dem Telefonat mit Professor Konrad war Lutz Hirschfeld darüber im Bilde, dass sein Vater einen schweren Schub hinter sich hatte, auf den eine Depression gefolgt war. Offensichtlich hatte ihn diese immer noch fest im Griff. Und dagegen kam Lutz Hirschfeld nicht an.
„Ich soll dich von Jo grüßen“, wechselte er daher das Thema.
„Wo steckt deine Schwester diesmal?“
„In New York, das weißt du doch. Sie besucht einen Schauspiel-Workshop. Das nächste Semester fängt erst wieder im April an.“
„Ja, ja. Ist mir ganz recht, dass sie mich so nicht sieht.“
„Das kann ich nachvollziehen.“
Jo war mit ihren 24 Jahren im Augenblick noch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie sich um ihren Vater kümmern konnte. Hirschfeld nahm ihr das nicht übel, denn an ihrer Stelle wäre es ihm wahrscheinlich nicht anders ergangen.
„Deine Mutter könnte sich hier allerdings mal blicken lassen.“
Lutz Hirschfeld schwieg betroffen. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass die Psychose
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