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Seelenschacher

Seelenschacher

Titel: Seelenschacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mucha
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restliche Nacht verbrachte ich damit, meine Bücher einzupacken und in den Keller hinunterzutragen. Meine Exzerpte und Notizen waren nicht beschädigt, und auch sie verstaute ich mit den anderen Sachen, die mir am Herzen lagen, im Keller. Viel war es nicht: ein paar Dosen Tee, meine schöne Teekanne, die letzten Platten meiner Sammlung und mein Teppich. Auf den Rest war geschissen. Da mein Kopfkissen völlig durchnässt war, packte ich nur meine Toilettensachen, einen kleinen Rest sauberen Gewandes und meine Decke in einen Koffer. Nahm ihn in die rechte Hand, klemmte meinen uralten PC in die linke und zog aus. Von nun an würde die Uni mein Zuhause sein. So lange, bis sie mich auch dort hinauswerfen würden. In der Uni dürfen nur Obdachlose schlafen, Institutsangehörigen ist es verboten. Gut, ich war ja nun beides.
     
    Ein kalter, leicht diesiger Morgen sah mich um fünf Uhr den U-Bahn-Schacht hinter dem Rathaus hinaufsteigen. Koffer und PC waren schauderhaft schwer. Unter meinen Füßen war der Asphalt nass, in der Nacht hatte es wieder geregnet. Ein paar Autos fuhren laut an mir vorbei. Das Rathaus hob sich schwarz gegen den hell werdenden Himmel ab und spiegelte sich in den Lachen auf dem Trottoir. Der Tag war noch nicht ganz angebrochen, aber die rosenfingrige Eos war schon dabei, über den Horizont zu lugen.
    Ich ging zum Hintereingang der Uni, sperrte mühsam auf und quälte mich die verschlungenen Hintertreppen hinauf ins Institut. In meinem Büro breitete ich meine Sachen auf dem Boden aus, rollte mich auf meiner Decke zusammen und war sofort eingeschlafen.
    Geweckt wurde ich, als eine Fliege begann, auf meinem Gesicht herumzukrabbeln. Eigentlich hätte ich mich freuen müssen, dass ich mein Büro mit einem lebenden Wesen teilte, doch dem war nicht so. Die mumifizierten Topfpflanzen, die modernden Kongressakten und meine Unterlagen waren mir lieber. Ich wusch mich, putzte meine Zähne, und als ich mich rasiert hatte, fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Obwohl meine Ohren nach wie vor dröhnten, meine Augen brannten und mir die Müdigkeit bleiern aufs Gemüt drückte. Doch nach der ersten Schale Tee, den ich inzwischen gemacht hatte, hatte ich auch das hinter mir gelassen. Ich saß an meinem Schreibtisch, blätterte ein wenig in einer Philologenzeitschrift und nippte an meinem Sencha. Schließlich fand ich in der Zeitschrift einen interessanten Aufsatz und vertiefte mich in die Lektüre. Mit ein wenig Tee und Stilanalysen zu Ciceros Gebrauch des ACI ist jeder Morgen ein Fest. Während ich las und mir Notizen machte, begann sich die Hitze des kommenden Tages bemerkbar zu machen, meine Kanne leerte sich zusehends und ich beschloss, dass es Zeit wurde zu handeln. Schließlich ging es schon auf halb elf.
    Erich Buehlin, Servitengasse 17. An der Roßauer Lände stieg ich aus der U4 und folgte dem Donaukanal ein paar Meter flussaufwärts. Unter den Bäumen am Wasser hielt sich noch ein wenig Morgenkühle, es war angenehm zu gehen. Ich musste nur aufpassen, dass mich die Myriaden von Radfahrern nicht erwischten. Dazwischen lief ab und zu ein Jogger vorbei und junge Mütter schoben ihre Kinderwägen. Bei der nächsten Ampel überquerte ich die Roßauer Lände, bog in die Pramergasse ein und kam so zur Servitengasse. Die Serviten sind ein Marienorden, der im 13. Jahrhundert in Florenz gegründet wurde. Seine sieben Gründer wurden 1888 heilig gesprochen, so als ob sie »eine Person wären«, ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Kirche. Das Ordenskloster gab der Straße ihren Namen.
    Ich klingelte bei Nummer 17, dort, wo Buehlin stand. Irgendwer hatte direkt neben die Klingeltafel in wunderschöner Kalligrafie ›Fuck You‹ gesprayt. Nach ein paar Augenblicken des Wartens summte der Türöffner und ich trat ein. Im Hausgang war es dunkel und kühl. Schwere Schwaden Kohlsuppendufts hingen in der Luft. Mit einer unbekannten Note im Hintergrund. Je näher ich Buehlins Wohnung kam – sie lag hinten hinaus im Erdgeschoss –, desto stärker wurde der unbekannte Geruch. Als ich vor seiner Tür stand, war von der Kohlsuppe nichts mehr übrig, verbranntes Haar, saures Kupfer und eine Mischung aus ägyptischen Spezereien und Ammoniak hatten sie komplett verdrängt. Buehlins Tür, massiv und mit einem guten Schloss versehen, war nicht geöffnet. Klingel fand ich keine, also klopfte ich. Die Sicherheitstür klang satt und mächtig. Buehlin hatte offensichtlich gegen Einbrecher vorgesorgt. Endlich, als ich schon

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