Seelensturm
erledigt.«
Sie wusste genau, dass Onkel Finley sie nicht gehen lassen würde. Das Gefühl, dass sie mir etwas verschwieg, keimte in mir. Doch vielleicht täuschte ich mich auch. Amy wusste, wie ich über Sandy dachte und natürlich war ich misstrauisch. Daher wechselte sie gekonnt das Thema.
Einige Stunden später kamen Amy und ich mit vollem Bauch, guter Laune, einem neuen Lippenstift und einem zu unseren Outfits passenden Nagellack nach Hause. Für Agnes hatten wir ein schönes Halstuch mitgebracht. Ich war ziemlich geschafft und ging gleich nach oben, während Amy Agnes noch unsere Ausbeute zeigte.
Wir bewohnten zwei große Zimmer zusammen. Wir teilten uns eine Art Wohnbereich und ein großes Schlafzimmer, wobei jeder seine Seite hatte. Und das war auch wichtig, denn Amy war sehr unordentlich, um nicht zu sagen, chaotisch. Überall lagen Klamotten, die sie anprobiert und nicht wieder in ihren Schrank eingeräumt hatte. Gürtel, Schuhe, Modemagazine, CDs verteilten sich in beiden Räumen. Auch in unserem großen, gemeinsamen Badezimmer bestand ich auf Trennung, da ich sehr ordnungsliebend war. Hin und wieder, wenn Agnes ein kleines Donnerwetter losließ, sah meine Schwester es endlich ein und räumte ihren Bereich auf, da Agnes sich schon lange weigerte, dies immer wieder für sie zu tun.
Manchmal wünschte ich mir schon ein eigenes Zimmer, doch ich brachte es nicht übers Herz, mich von meiner Schwester zu trennen. Wir waren seit unserer Geburt zusammen. Und ich hatte schon immer das Gefühl, ich sollte ein Auge auf sie haben.
Ich hatte meine Kopfhörer aufgesetzt und hörte Musik, während sie endlich ihre Klamotten einräumte. Dazu tanzte sie zu der Popmusik, die laut in unserem Wohnzimmer dröhnte. Wir schliefen jeder in großen Betten, die jeweils im Raum gegenüberstanden. Auf jeder Seite standen kleine Nachttische. Das große Fenster in der Mitte teilte das Zimmer zwischen uns. Es war eine unsichtbare Grenze. Die Wände hatten wir selbst gestrichen und jede hatte auf ihre Lieblingsfarbe bestanden. Während ich mich für einen sanften Gelbton entschieden hatte, bestand Amy auf ihrer Lieblingsfarbe Rosa. Sie liebte rosa und pink. Eigentlich alles, was funkelte und glitzerte und typisch für Mädchen war. Die Seitenwand, an dem ihr Schreibtisch stand, war zugepflastert mit Postern von Popstars, deren Musik sie gerne hörte. Ganz besonders eine Band namens Bulls und dessen Frontman sah man vorzugsweise an ihren Wänden. Ständig stellte sie unsere Anlage so laut, dass selbst ich schon den Text auswendig konnte. Es nervte mich, immer und immer wieder das Gleiche hören zu müssen.
Meine Gedanken wanderten zu Tom. Er war heute wirklich merkwürdig, dachte ich, während ich Amy beobachtete, wie sie zum Takt der Musik durchs Zimmer hüpfte. Als ich fragte, ob er Freunde gefunden hatte, reagierte er ungewöhnlich darauf. Ich kannte ihn schon fast mein ganzes Leben. Hatte er Sorgen? Ging es ihm nicht gut? Vielleicht hatte er sich das Jurastudium doch anders vorgestellt und bereute nun seine Entscheidung. Oder hatte er ein Mädchen kennengelernt? Schließlich wäre es nichts Ungewöhnliches gewesen. Man lernt jemanden kennen und verliebt sich. Das hätte er mir doch sagen können.
Kapitel 3
An diesem Abend schlief ich früh ein. Agnes hatte für uns einen Imbiss in den Kühlschrank gestellt und war dann in ihr wohlverdientes Wochenende gestartet. Sonntags hatte sie frei. Kurz vor 23 Uhr wurde ich durch einen kühlen Luftzug geweckt. Ein Schauer fuhr mir den Rücken hinunter. Ich reckte mich und zog meine Decke über die Schultern. Irritiert öffnete ich meine Augen. Wieso stand das Fenster offen? Hatte Amy es mal wieder vergessen zu schließen? Ich sah auf und entdeckte sie. Sie war auf das Fenstersims geklettert und sprang waghalsig genau in dem Augenblick, als ich mich weiter aufrichtete, um besser sehen zu können, auf die große Linde, die direkt vor unserem Fenster ihre dicken Äste ausstreckte.
»Amy?« Was tat sie da? Sie hatte mich nicht gehört, als ich meine Decke von mir schob und ihr vom Fenster aus zusah, wie sie gerade am dicken Stamm der Linde hinunterkletterte. Dann sah ich nur ihren Schatten, wie sie sich davon schlich.
»Amy! … Amy! Wo gehst du hin?«, rief ich ihr leise hinterher, doch sie gab mir keine Antwort. Sie hatte mich noch nicht einmal bemerkt. Ich wurde nervös. Was sollte ich jetzt tun? Vielleicht wollte sie nur im Park spazieren gehen? Amy und nur spazieren gehen?
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