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Seelenzorn

Seelenzorn

Titel: Seelenzorn
Autoren: Stacia Kane
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im Raum umzusehen.
    Der Psychopomp ließ sich auf einer Sitzstange hinter Lupitas linker Schulter nieder. Es war eine Krähe, deren schwarzes Gefieder im Feuerschein schimmerte. An der rechten Wand grinsten lauter blanke Schädel. Die meisten stammten von Kleintieren, Katzen, Ratten oder Hunden. Links gab es ein Wandgemälde: Geister mit lang gezogenen Armen und Spinnenfingern, die sich furchterregend und traurig zum Himmel reckten.
    Chess bekam plötzlich Schweißperlen auf der Stirn, die ihr an den Schläfen hinunterrannen. War es hier vor ein paar Minuten auch schon so heiß gewesen? Außer ihr schien niemand zu schwitzen, warum sie?
    Allerdings trug auch sonst niemand einen Pullover mit Rollkragen und langen Ärmeln, trotz der Kälte draußen. Chess hatte nichts anderes anziehen können. Schließlich war sie an Brust und Armen flächendeckend mit magischen Symbolen tätowiert, die ihre Kraft bündelten, sie warnten und beschützten und sie als Angestellte der Kirche auswiesen. Sie kitzelten jetzt, aber ob das an der Hitze lag, ihrer Nervosität oder dem Flimmern in der Luft, wusste Chess nicht. Es war jedenfalls nichts Ernstes. Sie hatte recht behalten: Lupita hatte nicht annähernd die nötige Macht, um einen Geist zu beschwören.
    Und das war auch gut so, denn sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihre »Gäste« mit den einfachsten Schutzzeichen zu versehen oder einen Kreis aus Salz um sie zu streuen oder sonst etwas zu tun, das Kirchenangestellte bereits im ersten Ausbildungsjahr lernten.
    Chess fragte sich, was sie wohl zu sehen bekämen. Hologramme vermutlich; die Technologie heutzutage war so weit fortgeschritten, dass es schwierig bis unmöglich war, den Unterschied zwischen einem echten Geist und einem Hologramm zu erkennen, jedenfalls für magisch Unbegabte, und wenn Lupita regelmäßig solche Einnahmen wie heute machte, konnte sie sich bestimmt die allerbeste Technik leisten.
    Vielleicht benutzte sie aber auch die altmodischen Tricks aus vergangenen Zeiten und dazu gedämpftes Licht, diesen widerwärtigen Tee, der wahrscheinlich milde berauschend wirkte, und die Kraft der Suggestion. Spiegel, glänzende Stoffe und das verzweifelte Verlangen des Kunden, an etwas zu glauben, sorgten für das Übrige.
    Wenigstens war es harmlos. Ein echter Geist - ein echter Geist war etwas, wovon man Albträume bekam. Ein echter Geist würde sich ohne kirchlich geschultes Personal nicht auf einen gemütlichen Plausch mit seiner Mami oder dem besten Freund einlassen. Denn er richtete seinen Rest Verstand ausschließlich auf eins: aufs Töten. Wer ihm zu nahe kam, dem saugte er die Energie aus und benutzte dessen Lebenskraft, um sich selbst zu stärken. Er war ein Parasit, der sich am Blut seiner Opfer prall und rund soff.
    Nicht einer der Menschen in diesem Raum hatte auch nur den Hauch einer Vorstellung, was es bedeutete, einem echten Geist gegenüberzutreten. Zu ihrem Glück würde es auch nie so weit kommen. Sobald Lupita ihre kleine Show angekurbelt hätte, würde Chess ihren Laden dicht machen, und außer auf dem schauerlichen Wandgemälde würde heute Abend keiner einen Geist zu Gesicht bekommen.
    Orangefarbenes Licht blinkte über den Tisch. Chess sah auf, wie alle anderen auch, und ihr ohnehin beschleunigter Puls legte noch ein paar Takte zu. Madame Lupita hielt ein Messer in der Hand und reckte es hoch über den eigenen nackten Unterarm. Blutmagie. Oh, das war nicht gut. Blutmagie ohne Salzkreis, ohne Schutzformeln. Lupita mochte ja machtlos sein, aber das war ...
    Das Messer fuhr herab. Lupitas Blut quoll über ihre Tätowierungen - illegale Hexentätowierungen, was der wachsenden Liste ihrer Vergehen, als wären es nicht genug, noch eines hinzufügte - und tropfte auf den blauen Seidenschal.
    »Kadira tam, Annabeth Whitman«, deklamierte sie. »Kadira tam.«
    Ein Schweißtropfen landete vor Chess auf dem Tisch. Sie hatte ein Brennen in der Kehle. Scheiße, sie fühlte sich wirklich krank. Sie fühlte sich schwach, sogar ausgeliefert, so als ob ihr medialer Schutzschild versagte und ihre Kräfte ums Überleben kämpften.
    Überleben ... als Lupita mit der eigenen spärlichen Kraft vorstieß, um sich von den Anwesenden zu nähren, fühlte sich Chess wie eine Batterie, die langsam leer gesogen wird, und in dieser Sekunde, gerade als die Raumtemperatur um gute zwanzig Grad sank, wusste sie, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
    Nein, Lupita besaß nicht die Macht, einen Geist zu beschwören. Aber
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