Seepest
Glas und erklärte so die Pause für beendet. Ohne Eile nahmen die
anwesenden Gäste ihre Plätze ein. Das allgemeine Gemurmel erstarb und machte
erwartungsvoller Stille Platz.
»Liebe Kolleginnen und Kollegen. Nachdem wir die
Pflicht – damit meine ich das wie gewohnt üppige kalt-warme Büfett –
erfolgreich gemeistert und uns anschließend ein bisschen die Füße vertreten
haben, kommen wir nun zur Kür des heutigen Abends – und damit meine ich den
Vortrag unseres angekündigten Gastredners, Hauptkommissar Leo Wolf von der
Kripo Überlingen. Als Leiter des Dezernates 1 ist er verantwortlicher –
und ganz nebenbei auch außerordentlich erfolgreicher – Ermittler bei
Kapitalverbrechen, Selbsttötungen und Bränden. Er weiß also, wovon er redet.
Lassen Sie uns hören, was er zum Wechselspiel unserer Berufsstände zu sagen
hat. Begrüßen Sie mit mir Hauptkommissar Leo Wolf.«
Unauffällig stupste sie Wolf mit dem Fuß an, ehe sie
in den aufkommenden Beifall einfiel und sich wieder setzte.
So fühlt sie sich also an, die Stunde der Wahrheit,
dachte Wolf. Ab jetzt gibt es kein Zurück mehr. Mechanisch erhob er sich von
seinem Stuhl und knöpfte seine Jacke zu. Mit schweren Beinen trat er den Gang
zum Rednerpult an. Doch merkwürdig: Je näher er ihm kam, desto schwächer wurde
seine Angst, desto freier fühlte er sich. Sollte Franzi am Ende doch recht
behalten? War ihre Prophezeiung, das Lampenfieber löse sich in Luft auf, sobald
man erst einmal da vorn stand, nicht nur ein billiger Trost gewesen?
In seiner grenzenlosen Erleichterung entging ihm
zunächst sogar das heftige Winken und Räuspern, mit dem Franzi Reichmann ihn
während seines Ganges auf sich aufmerksam zu machen suchte. Mit ausgestrecktem
Arm hielt sie ihm sein Manuskript hin. Er hatte es auf dem Tisch liegen lassen – vergessen, wie sie glaubte. Natürlich konnte sie nicht wissen, dass er seine
Rede soeben spontan »umgeschrieben« hatte. Warum, so hatte er sich gefragt,
sollte er diesen Herrschaften Fälle aus Lehrbüchern vortragen? Warum nicht aus
dem eigenen Fundus schöpfen? Gab es nicht mehr als genug spektakuläre Fälle,
die sein Dezernat in enger Zusammenarbeit mit der Rechtsmedizin zum Abschluss
gebracht hatte? Er machte verstohlen eine abwehrende Handbewegung in ihre
Richtung und setzte seinen Weg fort.
Dann stand er vor dem Auditorium. Gefasst legte er
seine Hände auf das Rednerpult, auf dem ein hilfreicher Geist ein Glas Wasser
für ihn bereitgestellt hatte. Nur flüchtig nahm er das Leselämpchen wahr, das
ohne die geringste Notwendigkeit die Platte des Pultes mit nichts als seinen
Händen darauf erhellte.
Beinahe wäre ihm angesichts der vielen auf ihn
gerichteten Augenpaare doch noch das Herz in die Hose gerutscht. Stattdessen
zwang er sich zur Ruhe und musterte der Reihe nach die ihm am nächsten
sitzenden Gäste. Dabei streifte sein Blick auch Franzi Reichmann, die ihn
nervös ansah. Mit einem leichten Kopfnicken suchte er sie zu beruhigen.
Inzwischen war er sich seiner Sache sicher; er wusste, wie er es anzupacken
hatte. Er zog das Mikrofon näher zu sich heran und holte noch einmal tief Luft.
»Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, verehrte
Frau Vorsitzende …«
Aus dem Publikum war verhaltenes Lachen zu hören.
»Verzeihen Sie, eine schlechte Angewohnheit, wir sind
ja hier nicht vor Gericht …« Mit einem Lächeln versuchte er den Eindruck zu
erwecken, als habe er mit einem bewussten Versprecher die Zuhörer zu erheitern
versucht. »Ich wollte natürlich sagen: Verehrte Frau Dr. Reichmann! Lassen
Sie mich Ihnen zunächst für die Einladung danken. Ich will gerne hoffen … nein,
ich bin mir sicher, dass heute Abend mehr als nur das wirklich exzellente
Büfett an uns hängen bleibt.« Dieser Satz löste erneut Heiterkeit im Saal aus.
Wolf sah die ersten Klippen umschifft und leitete zum
Thema seines Vortrags über. »Zu Recht hat Frau Dr. Reichmann das
Wechselspiel unserer Berufsstände angesprochen. Oder sollten wir besser sagen:
die gegenseitige Abhängigkeit? Ohne die die Aufklärung vieler Straftaten heute
nicht mehr denkbar wäre. Ich möchte das an einem Fall aufzeigen, der sich vor
etwa einem Jahr hier bei uns in der Bodenseeregion zugetragen und weit über die
Landesgrenzen hinaus Aufsehen erregt hat. Einige von Ihnen werden sich vielleicht
noch daran erinnern. Alles begann mit einem Suizid. Ein zweiundfünfzigjähriger
Mann hatte sich an einem Baum erhängt. Die äußeren Umstände, die
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