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Seerache

Seerache

Titel: Seerache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Megerle
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Türöffner und Sprechanlage jedoch stumm. Merkwürdig. Hatte Leo sich etwa hingelegt und war eingeschlafen? Nein, ganz sicher nicht, genauso wenig, wie er ihre Verabredung vergessen hatte. In Termindingen war Leo mehr als pingelig. Er klingelte noch einmal, mit demselben Ergebnis. Beim dritten Mal ließ er den Finger länger auf der Taste. Nichts. Auch ein Rütteln an der Tür zeigte keine Wirkung, sie war und blieb verschlossen.
    Merkwürdig. Welchen Grund konnte Wolf haben, sein Klingeln zu ignorieren? Während Marsberg noch hin- und herüberlegte, trat er ein paar Schritte zurück und sah nach oben – worauf ihm beinahe die Augen aus dem Kopf fielen. Täuschte er sich, oder turnte da eine Gestalt auf dem Dach herum? Einen irrwitzigen Moment lang fühlte er sich an einen Schlafwandler erinnert, der mit traumwandlerischer Sicherheit vor einer der Dachgauben balancierte – mit der Hand am Fensterkreuz als einzigem Halt. Bei dem Anblick lief es Marsberg kalt den Rücken hinunter.
    Sekundenbruchteile später traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag in die Magengrube: Der »Schlafwandler« da oben auf dem Dach war niemand anderer als sein Freund Leo Wolf. Kein Wunder, dass er auf sein Klingeln nicht reagiert hatte. Wie sollte er auch? Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun – mit der rechten hielt er sich fest, während die linke die ganze Zeit über wie suchend über das Gaubendach fuhr.
    Ja war denn der Kerl von allen guten Geistern verlassen? Die Lage, in der er sich befand, war mehr als prekär; der kleinste Fehltritt konnte seinen Absturz bedeuten. Schon wollte Marsberg, einer Eingebung folgend, nach oben rufen, als unvermittelt die Haustür aufflog und zwei Kinder lärmend aus dem Haus gerannt kamen.
    Ehe die Tür wieder zufallen konnte, drückte Marsberg dagegen und verschwand im Innern des Hauses. Zwei Stufen auf einmal nehmend, jagte er die Treppe hoch, erleichtert, dass er nicht gerufen hatte. Womöglich hätte er genau das erreicht, was im Moment als Horrorbild in seinem Kopf herumspukte: dass Leo, verschreckt zusammenzuckend, das Gleichgewicht verlor und in die Tiefe segelte.
    Soweit Marsberg das beurteilen konnte, lag das fragliche Fenster außerhalb von Leos Wohnung. Das erklärte zwar nicht Leos Aufenthalt zwischen Himmel und Erde, versetzte Marsberg aber immerhin in die Lage, notfalls beherzt zupacken zu können, ohne das Hindernis Wohnungstür überwinden zu müssen – vorausgesetzt, er käme rechtzeitig oben an.
    Leicht außer Atem erreichte er Sekunden später den obersten Treppenabsatz. Der Anblick, der sich ihm bot, wirkte auf Marsberg alles andere beruhigend. Wolf war, vermutlich in einem Anfall geistiger Umnachtung, durch das offene Fenster gestiegen. Der Teufel mochte wissen, was er dort zu suchen hatte. Für Marsberg waren lediglich Wolfs Hosenbeine zu erkennen, Kopf und Oberkörper blieben ihm verborgen. Allerdings hatte er an diesem Anblick genug zu kauen. Nicht nur, dass sein Freund auf dem schmalen Sims jederzeit abrutschen konnte. Was, wenn er brach oder seine Hand vom Fensterkreuz abglitt?
    Während Marsberg noch unschlüssig auf der Stelle stand, drang von draußen vom Dach Wolfs Stimme an sein Ohr. »Na also, du verdammtes Miststück, warum nicht gleich so?«
    Marsberg hatte keine Ahnung, was sich dort abspielte, doch es schien für jemanden schmerzhaft zu sein: Ein Schrei klang auf, so schrill und klagend, als hätte Leo einer Katze den Schwanz ausgerissen.
    Marsberg beschloss, dem Spuk ein Ende zu machen. Entschlossen trat er ans Fenster, doch noch ehe er etwas unternehmen konnte, stellte Leo sich auf die Zehenspitzen und machte sich richtig lang.
    Erschrocken packte Marsberg zu.
    Und Wolf? Der ging – zu Marsbergs Entsetzen – unvermittelt in die Knie, bis sein überraschtes Gesicht in der Fensteröffnung auftauchte.
    »Ach, du bist’s«, sagte er, als wäre sein Anblick das Selbstverständlichste auf der Welt. »Hier, nimm mir mal diese kleine Ausreißerin ab.« Er drückte Marsberg ein zappelndes Fellbündel in die Arme, bevor er vom Fenstersims in den Vorraum zurücksprang.
    Marsberg war wie vom Donner gerührt. »Soll das heißen, du bist wegen dieses Katzenviehs da draußen herumgeturnt, machst dir aber wegen eines läppischen Zeppelinflugs in die Hosen? Ich fass es nicht.« Ungläubig schüttelte er den Kopf. Er bezweifelte ernsthaft den Geisteszustand seines Freundes.
    »Hast wohl Schiss gehabt, was?«, entgegnete Wolf feixend. »Fiona ist

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