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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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Halbschale voll funkelnder Stadtlichter auf: der zweite Zylinder von Quartett Drei. Die federgetriebenen Schwingenschläge jagten schmerzhafte Stiche durch Antaeas Rücken, und ihre Schenkel zitterten vom Treten in die Bügel – aber sie war fast da. Schon schwebten vorgelagerte Gebäude mit blinkenden Lichtern majestätisch vorüber, und vor ihr führte ein Seiltrichter zur Achse des riesigen Habitatrades. Polizeikreuzer und Zivilschiffe waren ständig in Sicht. Wenn Gonlins Leute hier einen Anschlag versuchten, würden sie damit nicht durchkommen.
    Außer natürlich, sie schossen aus einem Kilometer Entfernung mit einem Gewehr auf sie. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, sich unten auf den Straßen in der Menge zu verlieren.
    Sie warf noch einen Blick über die Schulter auf einen schwarzen Fleck am Himmel – den Asteroiden Rush.
Mit diesem Blick nahm sie Abschied – ihr Herz flatterte so sonderbar wie einst an dem Tag, an dem sie Pacquaea verlassen hatte, um sich dem Heimatschutz anzuschließen. Sie hatte geglaubt, solche Momente inzwischen verarbeiten zu können, schließlich hatte es in ihrem Leben genug davon gegeben. Aber diese Seelenqualen – sie waren mit nichts zu vergleichen, obwohl sie jede Sekunde davon verdient hatte. Sie hatte den falschen Leuten vertraut – nein, schlimmer noch, sie hatte sich selbst vertraut, und die Folge war, dass sie nicht nur alles verraten hatte, woran sie jemals geglaubt hatte, sondern auch die einzigen beiden Menschen in der Welt, die ihr wirklich etwas bedeuteten.
    Ihre Tränen lösten sich zitternd im schwachen Gegenwind und purzelten hinter ihr her – winzige Wegweiser zurück zum Tiefenschwärmer.
    Ein Verkehrspolizist gab ihr ein Zeichen, und sie bog gehorsam in einen Luftkorridor ein, der von drei Seilen begrenzt wurde. Der Polizist trug biolumineszierende Kleidung und hatte auf dem Kopf, an Handgelenken und Knöcheln propellergetriebene Laternen befestigt; wenn Antaea in der richtigen Stimmung gewesen wäre, hätte sie sich vielleicht über die phantastische Gestalt gefreut, die wie ein Unterwasserwesen die Arme schwenkte, um ankommende Reisende einzuweisen. Stattdessen ging ihr Blick ins Leere, und sie folgte mit mechanischen Bewegungen den Landelichtern zu einer Plattform hoch über den kreisenden Straßen von Rush.
    Der Schwärmer hatte es ganz klargemacht: Von Telen Argyre war in dem Körper, der wie sie sprach und sich bewegte, nichts zurückgeblieben. Es war wie eine Infektion,
erläuterte das Wesen, ein nanotechnisches Fieber, das ihr Nerven- und ihr Immunsystem überwältigt hatte. Der Schwärmer hatte so etwas Jahrhunderte zuvor schon einmal erlebt. Wer diesem Fieber erlag, verlor nicht nur seinen Verstand. Jeder Nerv in seinem Körper starb, wurde weggeschmort und durch harte Bauteile ersetzt. Die wiederum wurden von einem eiskalten Prozessor gesteuert, der sich da eingenistet hatte, wo eigentlich das Gehirn sein sollte.
    Antaea wurde den Gedanken nicht los, dass Telen noch am Leben gewesen sein könnte, als sie selbst auszog, um Chaison Fanning einzufangen. Sie hätte auch bleiben und nach Telen suchen können anstatt nach diesem ausländischen Admiral. Warum hatte sie es nicht getan?
    Und als sie allmählich erkannte, wie sehr sie Chaison Fanning vertrauen konnte – warum hatte sie ihm da nicht von Telen erzählt? Er hatte sich durch ihr Verhalten verraten gefühlt, und er hatte Recht. Sie hatte ihn verraten.
    Wie ein Schlafwandler schwebte sie mit einem Dutzend anderer nächtlicher Reisender über eine Rampe. Erst als sie gegen jemanden prallte, der unvermittelt stehen geblieben war, wurde sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst. Der förmlich gekleidete Mann, mit dem sie zusammengestoßen war, nahm sie seinerseits kaum wahr – er war ganz damit beschäftigt, seine elegant gekleidete und nach Parfum duftende Begleiterin auf etwas hinzuweisen.
    Â»Da ist es«, sagte er. »Ist es nicht unglaublich, dass sie immer noch eingekesselt werden? Das spottet jeder Vernunft.«

    Die Dame erschauerte. »Der Pöbel«, murmelte sie. »Er umkreist sie wie ein Hai, der nur darauf wartet …«
    Antaea verschloss ihre Ohren vor so viel platter Theatralik. Andererseits, was sie da vor sich hatten …
    Es war die Trennung . Sie schwebte, von Scheinwerfern angestrahlt, im leeren Raum vor dem anderen Ende dieses Zylinders. Seit Antaea

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