Segel der Zeit
alle zum Appell nach unten kommen. Sie haben einen neuen Mann dabei, der uns sehen will. Könnte sein, dass er nach Ihnen sucht.«
»Warum sollte er?«, fragte Chaison mit Unschuldsmiene.
Sanson kletterte bereits wieder hinab. »Er hat den gleichen Akzent wie Sie.«
Chaison sah ihm nach, bis er verschwand. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wie sollte er das verstehen?
Wieso sprach ein Inspektor der Geheimpolizei der Falken wie ein Bürger von Slipstream?
Ein kurzes Hornsignal rief die Männer zusammen. Ãber sich hörte er andere Rigger murren, weil sie ihre Arbeit unterbrechen mussten. Chaison blieb noch eine Weile am Seil hängen und dachte nach. Dann machte auch er sich an den Abstieg.
Seit Tagen bemühte er sich um zuverlässige Informationen darüber, was sich zu Hause abspielte. In Slipstreams Hauptstadt Rush ging etwas vor, aber kein Mensch schien genau zu wissen, was es war. Er hatte Gerüchte über eine Belagerung gehört, aber wer belagerte wen? Niemand hatte angedeutet, die Regierung stecke in Schwierigkeiten. Ein weiteres Rätsel in dieser ohnehin unüberschaubaren Situation.
Chaison hatte nicht die Absicht, sich dem Inspektor zu zeigen, aber sehen musste er ihn. So suchte er sich nach wenigen Metern zwei Querseile und verlieà die Hauptspeiche. Er wollte auf einem anderen Weg nach unten klettern und sich von hinten an die Geheimpolizisten anschleichen.
Allmählich kam die Stadt zum Vorschein wie eine Silberstiftzeichnung. Er war in etwa dreiÃig Metern Höhe gewesen, die Seilspeiche war um ein Vielfaches länger. Die höchsten Gebäude überragten den Holzring, offiziell die Hauptebene der Stadt, allenfalls um fünfzehn Meter â was aber nicht bedeutete, dass es weiter oben nicht noch weitere Bauwerke gegeben hätte. Immer wieder hatten freie Unternehmer oder Amtspersonen Objekte â von Frachtbehältern bis zu Gästezimmern, die nur über Leitern zu erreichen waren â direkt in die Seilbespannung gehängt. Auch die Bullen hatten
sich hier eine Art Krähennester eingerichtet, von denen aus sie die StraÃe unter sich beobachten konnten. Heute waren diese Nester leer, und für Chaison war es ein Leichtes, mit halb ausgeklappten Schwingen vom Endpunkt seiner Seilbrücke zu einem davon hinüberzuspringen. Er landete genau in dem Moment, als ein Blitz durch die Wolken zuckte und in der Ferne dumpf der Donner grollte. Er trat an die Ãffnung in der Mitte der runden Plattform und kletterte rasch die Strickleiter hinab bis auf die StraÃe.
Die Geheimpolizei hatte seinen Arbeitstrupp in einer Gasse antreten lassen, die von der StraÃe abging und vor einer hohen Holzwand endete. Jenseits dieser Wand gab es nichts als vorbeirauschende Luft. Als Chaison um die Ecke lugte, sah er acht Polizisten; sie standen mit dem Rücken zu ihm und hatten sich drohend vor den Riggern aufgebaut.
»Wo ist er?« Eine Stimme wie ein Peitschenknall, verächtlich und ungeduldig. Tatsächlich â der Akzent war vertraut. Chaison wagte es, sich weiter vorzubeugen. Vielleicht war ihm der Sprecher ja bekannt.
Er stand hoch aufgerichtet zwischen den dicht gedrängten Polizisten. Jetzt erst sah Chaison, dass er sich deutlich von ihnen unterschied, denn er trug auch eine andere Uniform. Es war â Chaison stieà einen lautlosen Fluch aus â die Tracht eines Hofbeamten von Slipstream. Was hatte eine so hochgestellte Persönlichkeit hier zu suchen?
Hatte man ihn am Ende doch nicht aufgegeben? Chaison lehnte sich hektisch blinzelnd gegen die Wand. Suchte Slipstream etwa nach ihm? Wollte man ihn so dringend zurückhaben, dass man sogar Beamte ausschickte
und sie mit den teuflischsten Behörden der Falkenformation in Kontakt treten lie� Es kam ihm merkwürdig vor, aber angenommen, es wäre die Wahrheit?
Die Stimme des Slipstream-Beamten drang erneut um die Ecke: »Sie haben genau zehn Sekunden Zeit, um mir zu sagen, wo er ist.« Und Chaison fluchte abermals â denn jetzt erkannte er die Stimme.
Er trat ohne Zögern an den Eingang der Gasse und sagte: »Ich bin hier, Kestrel.«
Sein alter Freund drehte sich um, entdeckte ihn und lächelte. Dann hob er den Arm und deutete mit seinem Schlagstock genau auf Chaison.
»Ergreift diesen Mann!«
Chaison war so überrascht, dass sie ihn fast erwischt hätten. Ein ganzes Büschel seiner Haare blieb in den Fingern eines Bullen zurück,
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