Segel der Zeit
schlüpfen sie. Wir müssen sie zerstören.«
Antaea hörte einen Laut in der Ferne â ein Donnern und Krachen, scharf und unverwechselbar. Irgendwo zerbrach ein Eisberg.
Das Krachen wiederholte sich, diesmal kam es aus einer anderen Richtung. Alle fuhren herum und starrten auf die ferne Hülle der Welt. Dort erschienen jetzt kleine weiÃe Wölkchen.
Antaea hörte gellende Schreie. Nur undeutlich nahm sie wahr, dass Telen sie an der Schulter gepackt hatte und auf etwas deutete. Gonlins Megafonstimme übertönte alles. Er wiederholte unablässig: »Ruhe bewahren, Ruhe bewahren! Das kommt von den Unseren. «
Ãberall auf der unermesslichen senkrechten Wand krochen metallisch blitzende Gebilde aus aufgebrochenen Eiskokons. Sie schüttelten sich und schleuderten mannsgroÃe Splitter von sich, dann entfalteten sie Flügel aus Metallgestänge und durchsichtiger Membran.
Allmählich gelang es Gonlins beschwörenden Worten, ihr abergläubisches Entsetzen zu durchdringen. Sie sah zu ihm hinüber, dann zurück an die Wand. Auch die anderen verstummten und warteten auf eine Erklärung â irgendetwas, das ihnen Sicherheit gäbe.
»Das sind Virgas Verteidiger«, kam es von Gonlin. »Ihre Existenz ist uns von jeher bekannt; vielleicht kennt ihr sie sogar aus Sagen und Legenden. Wo ich herkomme, nennt man sie die Tiefenschwärmer .«
Telen schnappte nach Luft und sah Antaea an. Die nickte. Als Kinder hatten sie ein wunderschönes Bilderbuch mit phantastischen Illustrationen besessen. Eine Zeichnung stellte einen Tiefenschwärmer dar, einen Wachposten in Gestalt eines Drachen, der die Tore der Welt hütete. Sie hatte immer den Verdacht gehabt, dass genau dieses Buch Telen dazu angeregt hatte, Archäologie zu studieren. Sie hatten allerlei Wunder erlebt, seit sie ihre Heimat verlassen hatten, aber Antaea hätte sich doch niemals träumen lassen, dass es die Schwärmer tatsächlich geben könnte.
»Von jetzt an stehen die Schwärmer unter unserem Kommando«, fuhr Gonlin fort. »Unser uraltes Mandat, Virga zu beschützen, ist keine leere Floskel. Wir wurden dazu mit Macht ausgestattet â einer Macht, von der die meisten von euch sicherlich nichts ahnten. Ihr seid Zeuge eines Geschehens, das weder ich noch sonst ein Angehöriger unserer jahrhundertealten Organisation jemals schauen durfte. Aber die Führung wusste immer, dass diese Macht vorhanden war und nur darauf wartete, dass wir sie brauchten. Ich bedauere, dass ihr dies unter solchen Umständen erfahren müsst, aber von diesem Augenblick an kann jeder von euch über einen Teil dieser Macht verfügen. Um unsere Feinde zurückzuschlagen. «
Als er nun dazu überging, die Fähigkeiten der unerwarteten neuen Verbündeten zu erläutern, kamen die Tiefenschwärmer summend näher und begannen die
Gruppe zu umkreisen. Dann bestimmte Gonlin: »Telen, du übernimmst Flug Zwölf. Antaea Flug Dreizehn.« Und aus der Nacht löste sich ein Alptraum aus lebendigem Metall, mit GliedmaÃen, die in riesigen Feuerwaffen endeten, und einer verschrammten Stahlkugel anstelle eines Kopfes. Die Haut dampfte noch vor Kälte nach dem langen Schlaf in der Eishülle der Welt.
Der Riesenkopf schwenkte erst nach der einen, dann nach der anderen Seite. Dann ertönte eine Stimme, uralt und kalt und so tief wie Donnergrollen:
»Wo ist Telen Argyre?«
Es war, als hätte der Gletscher selbst gesprochen. Telen drückte sich gegen ihre Schwester, und Antaea hielt sie fest. Doch nach einer Weile stemmte sich Telen gegen ihre Arme, Antaea gab sie frei, und Telen schwebte auf das Ungeheuer zu. »Hier bin ich«, flüsterte sie kaum hörbar.
»Wir sind Flug Zwölf.« Der Tiefenschwärmer streckte eine Hand aus und fasste Telen mit seinen Waffenfingern. Dann erzeugte er mit einem einzigen Flügelschlag einen kleinen Hurrikan und verschwand, gefolgt von Hunderten, dann von Tausenden anderer Schwärmer in der Nacht.
Weitere Tausende warteten in den Schatten am Rand der Welt. Einer davon glitt lautlos und majestätisch nach vorne. Antaea hatte seinen verhängnisvollen Ruf noch immer im Ohr: »Wo ist Antaea Argyre?«
Sie schreckte jäh aus ihren Gedanken. Beinahe wäre sie eingenickt. Sie sollte wohl besser in Ergezâ Villa zurückkehren.
Vielleicht würde sie heute Nacht ohne Träume schlafen.
Drei Tage später
Weitere Kostenlose Bücher