Segel der Zeit
stand Chaison auf einem dünnen, tief durchhängenden Querseil und schwang, die linke Hand an einer senkrechten Leine, mit dem ganzen Körper immer wieder hinaus ins Leere. Er wollte den Griff einer Winde zu fassen bekommen, der sich um eine Winzigkeit auÃerhalb seiner Reichweite befand.
Es sah so aus, als wäre er allein im Universum mit diesen Seilen, die oben und unten und zu beiden Seiten im Grau verschwanden. Der Nebel zog recht schnell an ihm vorüber â tatsächlich war er selbst es, der sich bewegte, denn er befand sich auf einer der Seilspeichen des Habitatrades. Zu erkennen war die Bewegung nur am Brodeln und Wirbeln der grauen Masse, doch wenn er das Gesicht in den Rotationswind hielt, nässte ihm der Dunst bald die Wangen, und wenn er zwinkerte, flogen die Tröpfchen nach allen Seiten davon.
Schwach drangen die Rufe der anderen Rigger zu ihm. Sie bemühten sich, auch ohne klare Sicht festzustellen, in welchem Ausmaà das Habitatrad unrund geworden war. Die Arbeit ging aufreizend langsam voran, und das Risiko wurde noch dadurch erhöht, dass aus den eilig vorübergleitenden Wolken jederzeit ein Blitz fahren konnte
Vielleicht lag es an der Einsamkeit und am Nebel, jedenfalls war Chaison, unbeeindruckt von den Gefahren, in eine geradezu besinnliche Stimmung verfallen. Er hatte immer damit gerechnet, eines gewaltsamen Todes zu sterben, erschossen, erstochen, erschlagen oder in tausend Fetzen zerrissen zu werden, während er das Kommando über ein Schiff führte; oder mit einem Tod im Bett, umgeben von Angehörigen, Ãrzten und Amtspersonen, die nur darauf warteten, der Presse sein Ableben
zu verkünden. Solche Todesarten waren Teil seiner Rolle, sie waren der logische letzte Baustein für die von ihm selbst entwickelte Persönlichkeit des Admirals von Slipstream. In den vergangenen Monaten hatte er sich dann ausgemalt, sein Leben von aller Welt vergessen im Gefängnis zu beenden, und auch das passte in die Rolle: der edelmütige Kriegsgefangene, der sich für sein Volk opferte.
Doch nun schien die Geschichte darauf hinauslaufen zu wollen, dass er in der Menge unterging. Er straffte als einfacher Arbeiter mit der Winde die Seile, um ein Habitatrad wieder rund zu machen. Und angenommen, er schaffte es, nach Slipstream zurück zu gelangen â wie viel von seinem alten Ich würde ihn dort erwarten? Noch vor wenigen Tagen war er voller Zuversicht gewesen, dass seine alten Freunde und Verbündeten in der Regierung ihm helfen würden, etwas von seinem früheren Leben zu retten.
Doch seit er als namenloses Mitglied dieses Riggertrupps arbeitete, hatte er eingehender über seine alten Bekannten nachgedacht. Hatte die Loyalität dieser Männer jemals ihm selbst gegolten, oder achteten sie nur seine Position? Und seine Freunde ⦠War er es, dem sie zugetan gewesen waren? Oder war es ihnen nur um seine Macht und sein Ansehen gegangen?
Vorerst schien ihn Darius noch als Autorität anzuerkennen, aber das musste nicht so bleiben. Der Junge hatte allen Grund, Chaison zu grollen, denn der war letztlich verantwortlich für den tragischen Verlauf von Darius Martors Leben. Zwangsrekrutiert zur Flotte in unglaublich jungen Jahren, konnte der Junge sich kaum an ein anderes Dasein erinnern. Nachdem er jetzt das
Gefängnis verlassen hatte und einen (wenn auch in einem antiutopischen System wie der Falkenformation nur sehr verschwommenen) Blick auf so etwas wie ein normales Leben hatte werfen können, musste ihm bald aufgehen, wie elend und unterdrückt er bisher gewesen war. Und dann würde er nach dem Grund dafür suchen.
Chaison würde ihn trotzdem wohlbehalten nach Hause bringen; das war eigentlich das einzige Ziel, das er jetzt noch hatte.
Von unten kam erneut ein Schrei, diesmal etwas näher. Chaison schaute zwischen seinen FüÃen hindurch. Fünf Meter tiefer lösten sich Kopf und Schultern eines Mannes aus dem Nebel. Es war Sanson. Er zog sich rasch an eine Stelle dicht unterhalb von Chaison, zwinkerte ihm kurz zu und sagte dann: »Sie sollten sich aus dem Staub machen.«
»Wie meinen Sie das?« Chaison kletterte hinunter und hängte sich neben Sanson. An die Stelle der grauen Silhouette des Riggers trat der Blick auf Dächer und Seilspeichen. Dann zogen neue Wolkenschleier heran, und sie waren wieder allein.
Sanson strich sich das feuchte schwarze Haar aus dem Gesicht. »Es sind die Bullen. Wir sollen
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