Sehnsucht der Unschuldigen
kniete, nahm er halb bewußt war.
Bobby Lee rappelte sich auf. Im nächsten Augenblick kam ihm schon das Frühstück hoch und ergoß sich über seinen neuen schwarzen Anorak. Aber darauf achtete er nicht mehr. So schnell ihn die Beine trugen, rannte er zurück nach Innocence.
Seine Rute, Leine und ein Gutteil seiner Kindheit blieben im blutgetränkten Schilf zurück.
1
Der Sommer, das bösartige grüne Vieh, spielte mit den Muskeln und legte ganz Innocence, Mississippi, lahm. Einer großen Anstrengung bedurfte es dazu freilich nicht. Schon vor dem Bürgerkrieg war Innocence kaum mehr als ein Fliegendreck auf der Landkarte gewesen. Obwohl sein Boden sich vorzüglich für Ackerbau eignete – vorausgesetzt, man hielt die dampfige Hitze und den Wechsel von Überschwemmungen und Dürreperioden aus –, blieb der Wohlstand Innocence vorenthalten.
Daran hatte auch der Bau der Eisenbahnstrecke nichts geändert. Die Züge fuhren zwar so nahe an Innocence vorbei, daß ihr Pfeifen zu vernehmen war, doch abgesehen von seinem überaus lästigen Widerhall ließ der Fortschritt Innocence links liegen. Knapp ein Jahrhundert nach der Eisenbahn hatte sich der Interstate durch das Mississippi-Delta gegraben und Memphis und Jackson miteinander verbunden, und wieder bekam Innocence außer Staub nichts davon ab.
Es gab hier weder berühmte Schlachtfelder noch Wunder der Natur, die Touristen mit ihren Kameras und Geldscheinen hätten anziehen können. So war auch nie ein Hotel entstanden, das solche Leute verwöhnt hätte. Nur eine kleine, von den Konsens in peinlicher Ordnung gehaltene Pension stand mitten im Ort.
Etwas außerhalb lag Sweetwater, die einzige historische Plantage aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg und seit über zwei Jahrhunderten Eigentum der Longstreets. Interessiert hatte sich dafür bislang noch niemand. Im
Southern Homes
hatte einmal ein Artikel über Sweetwater gestanden, aber das war in den frühen Achtzigern gewesen, als Madeline Longs treet noch gelebt hatte. Inzwischen lagen sie und ihr Trunkenbold von Gemahl längst unter der Erde, und das Haus wurde von ihren drei Kindern bewohnt und geführt. Den dreien gehörte so ziemlich die halbe Stadt, aber das nützten sie nie aus.
Man konnte sagen – und tat das auch –, daß die Longstreets die herbe Schönheit ihrer Eltern geerbt hatten, aber nichts von ihrem Ehrgeiz. Es fiel schwer, die charmanten, schwarzhaarigen jungen Leute mit den goldenen Augen nicht zu mögen – sofern die Bewohner des verschlafenen Nests im Delta überhaupt soviel Energie aufgebracht hätten. So verübelte niemand Dwayne, daß er in die Fußspuren seines Daddys trat und ebenfalls kräftig soff. Auch wenn er gelegentlich einen Wagen zu Schrott fuhr oder in McGreedys Kneipe ein paar Tische demolierte, so ließ er sich nie lumpen und bezahlte großzügig den Schaden, sobald er seinen Rausch ausgeschlafen hatte.
Allerdings wurde es im Laufe der Jahre immer schwerer, ihn nüchtern anzutreffen. Es wurde gemunkelt, in seinem Leben wäre bestimmt alles ganz anders gekommen, wenn er in dem exklusiven Internat, in das ihn seine Eltern als Kind gesteckt hatten, nicht so unglücklich gewesen wäre. Oder wenn er neben der Vorliebe seines Vaters für Sour Mash auch etwas Liebe zum Land geerbt hätte.
Weniger freundliche Zungen behaupteten, daß er dem vielen Geld zwar das tolle Haus und seine rasanten Luxuslimousinen zu verdanken hatte, daß er sich davon aber nie so etwas wie ein Rückgrat würde kaufen können.
Nachdem Dwayne 1984 Sissy Koons in andere Umstände gebracht hatte, hatte er sie ohne viel Federlesens geheiratet.
Genausowenig hatte er dann zwei Kinder und unzählige Flaschen Sour Mash später gemurrt, als Sissy die Scheidung verlangte. Zu keinem Zeitpunkt hatte es böses Blut gegeben.
Warum auch? Gefühle waren ja nie im Spiel gewesen. Sissy war unbehelligt mit den Kindern zu einem Schuhvertreter nach Nashville gezogen, der schon auf sie wartete.
Josie Longstreet, die jüngste im Haus und die einzige Tochter, hatte mit einunddreißig Jahren bereits zwei Ehen hinter sich, die trotz ihrer Kurzlebigkeit die Bewohner von Innocence mit Stoff für endlosen Klatsch versorgt hatten. Diese beiden Erfahrungen hatten ihr in etwa soviel ausgemacht wie anderen Frauen die Entdeckung der ersten grauen Haare. Ganz ohne Wut, Verbitterung und Angst war es also auch bei ihr nicht abgegangen, aber danach war alles schnell vorbei gewesen. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Eine Frau denkt genausowenig
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