Sehnsucht nach Owitambe
Leichtigkeit, mit der er den Vorfall herunterspielte, war in Wirklichkeit nur vorgegaukelt. Wenn die Ovambos zu Nehales Stamm gehörten, dann waren sie tatsächlich in Gefahr. Als lebende Geiseln waren sie eine kostbare Ware, falls einmal Verhandlungen mit den Schutztruppen nötig sein sollten. Er trieb das Pferd zu einem flotteren Schritt an.
»Wir sollten trotzdem schnell verschwinden.«
Wieder liefen sie die ganze Nacht und dann noch den halben Tag. Erst als die Sonne ganz im Zenit stand, führte er sie zu einem zerklüfteten Felshügel, der einen talähnlichen Einschnitt besaß, in dem sie sich, ohne gesehen zu werden, verstecken konnten. Sarah war am Ende ihrer Kräfte, und Raffael quengelte ununterbrochen. Er war als Einziger einigermaßen ausgeschlafen. Allerdings taten ihm die Knochen weh, und er wollte sich die Beine vertreten. Alles in ihm drängte darauf, sich zu bewegen.
»Lass mich ein wenig spielen«, forderte er ungeduldig. Doch Sarah hatte wenig Verständnis für seine Launen und zwang ihn nach dem einfachen Essen, sich neben sie in den Schatten zu legen. Widerwillig streckte sich der Junge neben seiner Mutter aus und starrte in den wolkenlosen Himmel. Klippschiefer huschten unbekümmert zwischen den Felsvorsprüngen herum. Ob er wohl einen fangen konnte? Raffael linste zu seinen Eltern hinüber. Beide hatten die Augen fest geschlossen und atmeten gleichmäßig. Vorsichtig schälte er sich aus Sarahs Armen und erhob sich, um auf den Felsen mit den Tieren zu schleichen. Flink kletterte er auf die kleine Anhöhe und blickte bald ungehindert in die Ebene. Dort oben wehte ein sanfter Wind, der ihn angenehm kühlte. Raffael amüsierte sich über die Klippschiefer, die zwischen den runden Felsbrocken umherhuschten und sich überhaupt nicht um ihn kümmerten. Einer hielt hoch aufgerichtet Wache, während die anderen unbekümmert umhertollten. In seine Beobachtungen vertieft, entdeckte der
Junge die Reiter erst, nachdem sie ihn bereits entdeckt hatten. Sie riefen ihm etwas zu und winkten zu ihm hinauf. Erstaunt nahm er sie wahr. Wer sie wohl sein mochten? Der Gedanke, seine Eltern zu warnen, kam ihm erst gar nicht in den Sinn. Im Gegenteil, er winkte unbekümmert zurück. In seiner Vorstellung wurden sie nur nachts von Unbekannten verfolgt. Die Tage gehörten dem Frieden, sonst würden seine Eltern schließlich nicht schlafen. Die fünf Männer ließen ihre Pferde vor dem Felsen anhalten und winkten Raffael zu sich hinab. Der Junge überlegte nicht lange. Die Männer sahen freundlich aus, fand er.
»Moro, moro«, begrüßte er sie freundlich, als er unten war. Die Männer sahen sich erstaunt an.
»Du Himba?«, fragte ihr Anführer. Er war ein älterer Mann mit einer Narbe im Gesicht. Er sprach gebrochenes Herero und hatte kaum noch Zähne im Mund. Raffael stockte, wie immer, wenn man ihm diese Frage stellte. Außerdem fand er die Männer gar nicht mehr so freundlich, als er sie von Näherem betrachtete.
»Was los, Junge? Du verschluckt Echse? Wo deine Leute?«
Raffael fühlte sich eingeschüchtert. Der Mann mit der Narbe sah ihn grimmig an. Er wollte ihn nicht noch mehr verärgern, deshalb deutete er hinter den Felsen, von dem er gerade herabgeklettert war. Der Anführer gab den Männern einen Befehl in einer fremden Sprache, woraufhin sie zu der Stelle gingen, auf die der Junge gezeigt hatte. Wenig später kamen sie mit Johannes und Sarah zurück. Die Hände der beiden waren auf dem Rücken gefesselt.
Raffael starrte den Anführer mit wachsendem Entsetzen an. Erst jetzt dämmerte ihm, welchen fatalen Fehler er begangen hatte.
Gewitterwolken
»Kannst du denn wirklich nichts dagegen unternehmen?«, fragte Jella wütend. Schon wieder war eine ganze Herde Rinder verschwunden. Samuel schüttelte bekümmert den Kopf. Der Vorarbeiter war mit den wenigen Leuten, die noch auf der Farm geblieben waren, seit dem Morgengrauen unterwegs, um das Vieh, das ihnen verblieben war, in die Nähe der Farm zu holen. Seit der Schlacht am Waterberg herrschte im ganzen Land Chaos. Einige Hererogruppen waren nicht in die Omaheke geflohen, sondern versuchten sich in Richtung Norden durchzuschlagen. Auch sie wurden von den Schutztruppen verfolgt. Beide Parteien, Flüchtlinge wie Soldaten, brauchten Verpflegung und bedienten sich freimütig an dem, was sie vorfanden. Viele Farmer hatten durch den Krieg ihren gesamten Viehbestand verloren. Nur wenige, wie ihr Nachbar Nachtmahr, konnten es sich leisten, ihre Farm zu einer Art
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